Ernestine B.* stürmt aus der Dusche und schreit laut, sie läuft aus dem Bad und reißt in ihrem Zimmer die Türen der Kleiderschränke auf, weil sie glaubt, sie wären ein Ausgang. "Einmal pro Woche muss es sein, auch wenn es immer schwierig ist, sie unter die Dusche zu bringen", sagt Maria W.* Situationen wie diese erlebt sie oft, denn sie ist Pflegerin in einem niederösterreichischen Seniorenheim und betreut Menschen wie Ernestine B., die Alzheimer-Demenz hat.

"Man stelle sich vor, plötzlich kommt eine wildfremde Person – und für Demenzbetroffene ist jede Person fremd – zieht einen aus und stellt einen unter die Dusche, da würde jeder von uns mit Angst oder Aggression reagieren", sagt Michaela DeFrancesco von der Uniklinik für Psychiatrie in Innsbruck. Beides seien häufige Symptome von Demenz, weil die Patienten die Pflegehandlungen nicht auffassen können, sie fragen sich: Wer ist das? Was passiert mit mir? Wer den Patienten Antworten auf diese Fragen geben will, muss abwägen: Ist die Wahrheit zumutbar?

Gültige Gedankenwelt

Eine Methode im Umgang mit Demenzpatienten ist die Validation, begründet von der amerikanischen Gerontologin Naomi Feil. Die Gedankenwelt des Betroffenen soll dabei als gültig anerkannt werden. "Man stellt sich vor, in den Schuhen des anderen zu gehen", sagt Maria W., die sich das auch für ihre Arbeit vorgenommen hat. Es geht darum, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, seine Lebenswelt zu stützen. "Man muss den Patienten dort begegnen, wo sie sich gerade befinden", sagt DeFrancesco.

Die Gedankenwelt des Betroffenen soll bei der Validation als gültig anerkannt werden.
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Es geht also um Bestätigung, aber nicht um das Konstruieren einer unechten Welt. Das heißt auch: Pfleger und Angehörige dürfen nicht lügen. "Die Betroffenen merken schnell, wenn sie belogen werden", sagt Tamara Nemeth vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien. Dennoch, immer ehrlich zu bleiben fällt mitunter schwer. Das zeigt sich auch im Pflegeheim: "Ich will nach Hause, ich will nach Hause!", ruft eine Bewohnerin immer wieder.

Schwindeln erlaubt

Sie sitzt auf einem Holzsessel mit rotem Lederbezug, vor ihr auf dem Tisch steht ein Häferl mit hellbraunem Kaffee. Es sei eine Gratwanderung, weiß DeFrancesco: "Angehörige und Pfleger müssen abwägen, ob der Patient mit der Wahrheit umgehen kann. Man würde der Bewohnerin jeden Tag ein Trauma zufügen, wenn man ihr immer wieder sagt, sie sei im Heim und könne nicht mehr nach Hause."

Denn die Patienten können diese Aussagen nicht reflektieren, darüber nachdenken oder verstehen. So ist es auch, wenn Betroffene nach bereits verstorbenen Angehörigen oder Freunden fragen. Diese Situation kennt die Pflegerin Maria W. auch von Ernestine B., die immer wieder nach ihrer verstorbenen Mutter fragt.

In diesen Fällen darf geschwindelt oder der Frage ausgewichen werden. "Es wäre keine Lebensqualität, der Bewohnerin jeden Tag vom Tod der Mutter zu erzählen. Da braucht es eine gewisse Notlüge", so DeFrancesco. Eine Antwort auf die Frage könnte sein: "Ich weiß nicht, wann sie kommt."

Andere Gedanken

Auch Ablenkung ist eine Option, die Betroffenen auf andere Gedanken zu bringen. Diese Taktik nutzt auch Maria W. bei der Bewohnerin, die unbedingt nach Hause will. "Trinken Sie noch einen Schluck Kaffee, und dann gehen wir eine Runde", sagt die Pflegerin zu der Frau, hilft ihr beim Aufstehen und nimmt sie an der Hand.

Gemeinsam gehen die beiden eine Runde durchs Haus. "Dadurch kommt sie auf andere Gedanken und vergisst den Wunsch wieder", sagt Maria W. Und noch etwas fällt hier auf: Auf jeder Station im Pflegeheim hängen bunte Vorhänge vor Türen und Ausgängen. "Das bringt enorm viel. Wenn die Bewohner die Türen nicht sehen, sagen sie viel seltener, dass sie nach Hause wollen", erklärt Maria W.

Hintergründe verstehen

"Auch wenn es so klingt, als würde man es sich leichtmachen, macht man es in Wahrheit den Patienten leichter", ist DeFrancesco von der Methode der Ablenkung überzeugt. Sätze wie "Reden wir später darüber", "Jetzt essen wir zuerst" oder "Ich verstehe, dass Sie das wollen, das geht aber nicht sofort" erreichen, dass Patienten sich mit etwas anderem beschäftigen. Sie haben nicht mehr die Gedächtnisleistung, sich daran zu erinnern und dann zu fordern: "Sie haben gesagt, wir reden später darüber, also machen wir das auch."

Phasen der Biografie zu kennen, ist für die Validation und die Arbeit mit Demenzpatienten besonders wichtig.
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Pflegewissenschafterin Nemeth ist anderer Meinung: "Ablenkung führt selten zum Erfolg. Viel eher sollte man nachfragen, um auf das Gefühl zu kommen, das hinter der Frage eines Patienten steht." Denn – davon geht auch Naomi Feil aus – hinter jedem geäußerten Wunsch steht ein Bedürfnis, das Betreuer erkennen und auf das sie eingehen sollten.

"Man muss Dinge ansprechen, dann fühlen sich die Betroffenen verstanden. Die Fragen nach dem Nach-Hause-Gehen wird dann vielleicht erst wieder am nächsten Tag gestellt", so Nemeth. Konkret könnte man fragen: "Warum wollen Sie nach Hause?", "Wer ist dort?" oder "Was wollen Sie dort tun?" Am Ende erfahre man dadurch oft, dass der Patient seine Familie vermisst, das Bedürfnis hat, gebraucht zu werden oder etwas zu tun.

Wahrnehmung akzeptieren

Das gilt auch für wahnhafte Vorstellungen oder Halluzinationen, die Demenzpatienten oft haben. Selbst dann ist trotz Validation Lügen keine Option. "Auch hier muss man die Wahrnehmung des Patienten akzeptieren, aber ihr nicht unbedingt zustimmen", sagt DeFrancesco.

Wenn etwa ein Patient der Meinung ist, jemand habe ihm etwas gestohlen, sollte das Gegenüber so darauf reagieren: "Ich glaube Ihnen, dass Sie das so wahrnehmen. Ich denke aber nicht, dass Sie jemand bestohlen hat." Auch diesen Fall kennt Maria W. aus ihrer Arbeit: "

Ich frage dann: 'Wo haben Sie den Gegenstand zuletzt gesehen?' oder 'Schauen wir noch einmal nach, bevor wir jemanden verdächtigen.'" Auch hinter diesen Ängsten kennt Nemeth die versteckten Bedürfnisse: "Man könnte fragen, von wem der Patient das vermeintlich gestohlene Stück bekommen hat. So stellt sich oft heraus, dass er diesen Menschen vermisst."

'Wie war das damals?"

Phasen der Biografie zu kennen ist für die Validation und die Arbeit mit Demenzpatienten besonders wichtig. Denn wer die Geschichte kennt, kann besser auf Betroffene eingehen. "Etwa wenn eine Bewohnerin immer abends nach Hause will, weil sie ihrer Familie früher um diese Zeit essen gekocht hat", so Nemeth.

Danach zu fragen fange Betroffene in diesen Gesprächen auf. "Es ist sinnvoll, über früher zu sprechen und zu fragen: 'Wie war das damals?'", rät auch DeFrancesco. Sehr oft ist die Welt, in der sich die Betroffenen befinden, eine, die schon viele Jahr zurückliegt. "Die Menschen finden sich in ihren 20ern wieder, als sie junge Eltern waren oder den Krieg miterlebt haben", so Nemeth.

Demenzpatienten leben oft in einer vergangenen Zeit, an die sie sich noch gut erinnern. Darüber zu reden kann helfen. Wichtig ist: die Wahrnehmung der Betroffenen zu akzeptieren.
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Das kennt auch Maria W. von der Bewohnerin Ernestine B. Denn die verwechselt sie immer wieder mit einer Freundin aus Kindertagen und fragt: "Kannst du dich noch erinnern, als wir miteinander gespielt haben?" Oder von, so erinnert sich die Pflegerin, einem früheren Bewohner, der einst als Lkw-Mechaniker gearbeitet hatte: "Einmal haben wir überall nach ihm gesucht und ihn dann auf dem Rücken liegend unter seinem Bett gefunden, wo er, seinem Verständnis nach, ein Fahrzeug reparierte", so die Pflegerin.

Vergangenes erleben

Der Biografie entsprechend können den Bewohnern auch Aufgaben gegeben werden, die sie an früher erinnern. Maria W. erzählt von einem ehemaligen Nachtwächter, der an einem Brett befestigte Schlösser immer wieder auf- und zusperrt. Ein bisschen konstruiert wird also doch, und zwar die Welt von früher. So bringen im Pflegeheim in Niederösterreich die Bewohner kleine Gegenstände mit, die sie an daheim erinnern. Und an den Zimmertüren hängen Fotos der Häuser, in denen sie zuvor gewohnt haben.

Das kann aber auch nach hinten losgehen, so DeFrancesco: "Je nach Art der Erkrankung können diese Erinnerung auch zu Kummer beim Patienten führen." Denn so unterschiedlich wie die Menschen sind auch die Formen von Demenz, an denen sie erkranken.

Im Zimmer von Ernestine B. hat – mit wertschätzenden Worten und viel Verständnis für die Lebenswelt der Patientin – das Duschen mittlerweile doch geklappt. Bis in der nächsten Woche alles wieder von vorn anfängt. (Bernadette Redl, 29.6.2019)