Wilhelm Lilge: "Es gibt viele Leute, die sich sogar die teuersten Pulsuhren zulegen, es aber nicht der Mühe wert finden, sich einen g'scheiten Trainingsplan zu erstellen."

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Beim 36. Vienna City Marathon werden sich wieder so manche Läufer über ihre Grenzen pushen.

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STANDARD: Wenn, wie bei der Nordischen Ski-WM in Seefeld, Spitzensportler des Dopings überführt werden, heißt es oft quasi entschuldigend, dass ja auch eine breite Masse der Breitensportler gedopt sei. Wie breit ist diese Masse wirklich?

Lilge: Erstens gibt es nur Vermutungen und keine echten Untersuchungen. Und zweitens werden Doping und Medikamentenmissbrauch oft in einen Topf geworfen. Im Spitzensport ist Doping oft von strafrechtlicher Relevanz, von sportrechtlicher sowieso. Im Breitensport geht es vor allem darum, dass man seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Da geht es nicht um Geld, sondern um die goldene Ananas. Eine bewusste Leistungsmanipulation betrifft da wohl nur einen sehr geringen Prozentsatz. Und das kann man nicht auf eine Stufe stellen.

STANDARD: Zu Schmerzmitteln wird aber, wie etwa eine Befragung beim Bonn-Marathon gezeigt hat, recht häufig gegriffen.

Lilge: Da haben knapp fünfzig Prozent der Teilnehmer erklärt, sie hätten im Training oder auch unmittelbar vor dem Start Schmerzmittel genommen. Man soll Medikamentenmissbrauch ja nicht verharmlosen. Aber unter die fünfzig Prozent fällt dann zum Beispiel auch einer, der drei Monate vor dem Marathon einmal ein Kopfwehmittel konsumiert hat.

STANDARD: Was nimmt eine Hobbyläuferin oder ein Hobbyläufer in Kauf, die oder der vor dem Start quasi prophylaktisch etwas nimmt?

Lilge: Wer vor einem Marathon Aufputschmittel oder Schmerzmittel einwirft, kann damit den natürlichen Schutzmechanismus des Körpers ausschalten, der vor völliger Überbelastung schützt. Jeder Schmerz ist schließlich ein Warnsignal des Körpers. Wer den Schmerz ausschaltet, ignoriert die Warnung. Ein gesunder Mensch kann sich nicht so anstrengen, dass er tot umfällt.

STANDARD: Nicht jeder Todesfall bei einem Marathon wird auf Medikamentenmissbrauch zurückzuführen sein.

Lilge: Nein, bei weitem nicht. Es gibt Todesfälle, die mit dem Missbrauch von Medikamenten in Zusammenhang stehen. Doch angeborene Herzfehler oder übergangene Infekte sind sicher weit häufigere Ursachen.

STANDARD: Woher rührt der Ehrgeiz eines Hobbyläufers, seine Leistung zu optimieren, indem er sozusagen den Mittel-Weg einschlägt?

Lilge: Wenn sich jemand Befriedigung holen will, ist der Sport dafür prädestiniert. Die Instagramisierung der Gesellschaft hat längst den Sport erfasst. Viele hauen gerne Storys und Fotos von ihren sportlichen Leistungen raus und lukrieren so viele Likes. Sie wollen schneller sein als der beste Freund, sie wollen in ihrer Altersklasse weit vorne landen. Und wenn einer dann kurz vor dem Marathon draufkommt, dass er im Dezember nicht ordentlich trainiert hat, will er das vielleicht kompensieren.

STANDARD: Rührt daher auch der Erfolg von Nahrungsergänzungsmitteln?

Lilge: Die sind auch schon oft eine reine Kompensation und zu 99 Prozent völlig sinnlos, eine Geldverschwendung. Und sie sind nicht selten eine Vorstufe zur Tablettenmentalität. Dabei kann man durch vernünftige Leistungsdiagnostik oder ordentliches gezieltes Training sehr weit kommen. Aber es gibt halt viele Leute, die sich sogar die teuersten Pulsuhren zulegen, es aber nicht der Mühe wert finden, sich einen g'scheiten Trainingsplan erstellen zu lassen.

STANDARD: Eine Zeitfrage?

Lilge: Die meisten, die sich einen Marathon oder einen Triathlon oder ein Radrennen vornehmen, haben genug Zeit. Dennoch wollen viele lieber die Abkürzung nehmen. Noch größer als im Ausdauersport ist die Problematik des Medikamentenmissbrauchs in den Fitnessstudios, die manchmal auch Partnermarkt sind. Da geht es darum, einer gewissen Vorstellung zu entsprechen – und beileibe nicht nur der eigenen Vorstellung.

STANDARD: Der Gesundheitsgedanke, der oft am Anfang stand, bleibt auf der Strecke.

Lilge: Das ist ja die Absurdität, die Perversion. Wer dopt, sabotiert damit, was er ursprünglich eigentlich erreichen wollte. Es ist, als würde man in einem Auto gleichzeitig Gas geben und bremsen.

STANDARD: Ist es nicht an sich grenzwertig und ungesund und oft mit Schmerzen verbunden, einen Marathon zu laufen?

Lilge: Ein Marathon, für sich gesehen, ist eine Grenzbelastung und sicher keine gesundheitsfördernde Maßnahme. Aber das Training dafür ist es sehr wohl. Wer beim Marathon an den Start geht, sollte unbedingt fit und gesund sein, wenn er kein Risiko eingehen will. Doch insgesamt kann man nicht oft genug betonen: Leute, bewegt euch! (Fritz Neumann, 3.4.2019)