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August 2014: Nach dem Angriff des "Islamischen Staats" flohen zehntausende Jesiden in die Berge. Aber tausende Männer wurden ermordet und tausende Frauen und Kinder verschleppt.

Foto: Reuters/Rodi Said

Verschleppt und versklavt, vergewaltigt, misshandelt und verkauft: Die Geschichten von Jesidinnen und ihren Kindern, die die Gefangenschaft beim "Islamischen Staat" überlebt haben, ergeben ein Kompendium des Leidens. Bei der Befreiung der letzten territorialen Bastion des IS im März wurden in Baghouz in Syrien Dutzende – es gibt noch keine gesicherten Zahlen – gefunden. Viel zu wenige: Etwa 3000 der 6500 Frauen und Kinder, die vom IS im August 2014 aus Sinjar verschleppt wurden, gelten noch als vermisst. Jesidische Organisationen appellieren an die internationale Gemeinschaft, mehr zu tun, um ihr Schicksal aufzuklären.

Viele von ihnen sind wohl nicht mehr am Leben. Im irakischen Jesidengebiet hat die von der Uno für die Aufklärung der IS-Verbrechen kreierte Einheit UNITAD (UN Investigative Team for Accountability of Daesh) mit der Öffnung der Massengräber von 2014 begonnen. Es sollen mindestens 35 sein. Die sterblichen Überreste der Opfer werden nach Bagdad zur Untersuchung überführt.

Aber auch bei den Angriffen der US-geführten Anti-IS-Koalition haben jesidische Gefangene ihr Leben verloren. Und in Baghouz sind manche an Strapazen und Hunger gestorben: Die knapp werdenden Lebensmittel gaben die IS-Leute oft nur an die eigenen Familien. Befreite berichten, dass sie sich zuletzt von Gras und Wurzeln ernährten.

Verstörung, Sprachlosigkeit

Nun kehren sie heim – manchmal muss die Familie erst ausfindig gemacht werden -, und nichts ist gut. Viele werden erst jetzt mit der Nachricht konfrontiert, was mit anderen Familienmitgliedern passiert ist. Videos zeigen verstörte Frauen und Kinder, die sich nicht mehr zurechtzufinden scheinen. Kinder, die sehr klein waren, als sie geraubt wurden, können nur mehr Arabisch.

Es gibt eine große Sprachlosigkeit, nicht alle können darüber reden, was mit ihnen passiert ist, benützen euphemistische Formulierungen. Die Geschichten derer, die erzählen, unterscheiden sich meist nur durch die grausamen Details: In Time berichtet eine 38-Jährige, 17-mal verkauft worden zu sein. Zu ihren "Besitzern" gehörten ein IS-Kämpfer aus Schweden und ein Albaner, der ihr die Hände brach, nachdem sie ihn dafür kritisiert hat, dass er eine Neunjährige gekauft hatte.

Keine Spur von der 15-jährigen Tochter

Oder das überlebende Paar in einer Zeltstadt in den Bergen von Shingal: Er hat in einer Miliz gegen den IS gekämpft, sie wurde mit den Kindern verschleppt. Von der 15-jährigen Tochter fehlt jede Spur, auch zwei Söhne sind verschwunden. Fünf Kinder leben noch, und nur wegen ihnen, sagt die Frau in eine TV-Kamera, hat sie sich nicht umgebracht. Mit jeder Nachricht von wieder aufgetauchten Jugendlichen kommt die Hoffnung zurück, kurz.

Die Frau hatte den Kindern, die bei ihr waren, ihre Namen in die Arme tätowiert: damit sie nicht vergessen, wie sie heißen, denn der IS gab ihnen islamische Namen. Als "ihr" IS-Mann es bemerkte, drohte er damit, den Kindern die Arme abzuschneiden.

In das Dorf, in dem sie gelebt haben, wollen sie nicht zurück: Ihr Haus ist weitgehend zerstört, aber das ist nicht der einzige Grund. Ihre muslimischen Nachbarn hatten den IS unterstützt, im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ihre Tochter vergewaltigt: "Wir werden nie mehr mit Muslimen leben können", sagen sie. Sie wollen auswandern – aber noch nicht jetzt, falls doch noch eines der verlorenen Kinder nach Hause kommt.

Vorurteile, Genozid

Jahrhundertelange Vorurteile über die jesidische Religion auch unter ganz normalen Muslimen und Musliminnen haben dem IS den Genozid erleichtert. Manche normale Leute haben sich an dem, was früher Jesiden gehörte, bereichert, manche aber auch aktiv am Leid der Jesiden partizipiert: So gibt es Berichte, dass Frauen, die dem IS entkommen konnten, von ihren vermeintlichen Rettern wieder nur gegen Lösegeldzahlungen an ihre Familien zurückgegeben wurden.

Es gibt auch Geschichten über halbwüchsige Kinder, die zum Entsetzen der Jesiden die erzwungene "Konversion" zum Islam verinnerlicht haben. Was tun mit ihnen? Die streng endogame jesidische Gemeinschaft – nur Heiraten innerhalb der ethnoreligiösen Gruppe sind erlaubt – hat ganz offiziell ihre eigenen strengen Gebräuche aufgehoben, nach denen vergewaltigte Frauen auf immer "beschädigt" sind: Aber für deren Kinder, die von muslimischen Vätern stammen, gilt das nicht.

Die meisten Frauen müssen diese Kleinkinder zurücklassen, um zu ihren Familien zurückzukehren, berichtet Jane Arraf auf NPR von der Grenze zwischen Syrien und dem Irak. Die Frauen tun das meist nicht freiwillig, sondern werden dazu gezwungen. "Tausende" solcher Kleinkinder soll es geben. Es wird versucht, sie in muslimischen Familien unterzubringen. Man kann davon ausgehen, dass nicht alle das Glück haben, gut unterzukommen. (Gudrun Harrer, 5.4.2019)