Eine Welt ohne künstliche Intelligenz (KI) wird es nicht mehr geben. Bis vor wenigen Jahren galt KI noch als wissenschaftliche Spezialdisziplin und inspirierte vor allem als Stoff der Science-Fiction-Literatur. Heute ist die Technologie längst fester Bestandteil des Alltags. Selbstlernende Systeme steuern die Spracherkennung in Smartphones, lassen Autos autonom fahren und helfen bei maschinellen Übersetzungen, bei der Identifikation von Objekten oder Personen, bei Kreditvergaben und Vorhersagen aller Art. Erstmals ändert sich die Beziehung zwischen Menschen und Maschinen – sie sind nicht mehr Werkzeuge, sondern lernen selbst weiter und treffen eigenständige Entscheidungen. Je nach ideologischem Hintergrund sind die Szenarien der Auswirkungen auf den Job- und Arbeitsmarkt mehr oder weniger düster. Welche Arbeit wird es nicht mehr geben? Wie werde ich mit Roboterkollegen zusammenarbeiten?
Big Data, billigere Technologie und immer bessere Algorithmen erschaffen allerdings in allen Bereichen eine neue Normalität. Die allgemeine Verunsicherung ist groß. Furcht ist da. Polarisierung hat den Diskurs über Mensch und Maschine ergriffen, die Informationen über manipulativen, überwachenden und kriminellen Einsatz der Technologien haben zu Vertrauensverlust und Ablehnung geführt. Auf der anderen Seite fungiert KI quasi als Deus ex Machina, als wunderbares Allheilmittel für alle Probleme und Schieflagen. Organisationen halten die größten Stücke auf Vorhersage- und Auswahlinstrumente – vom Strategischen bis zur Bewerbung und Eignung der Kandidaten – und versehen dies mit dem Wohlgeschmack der größeren "Objektivität".
Gleichzeitig fließen enorme Milliardenbeträge in die Forschung, wächst ein KI-Start-up nach dem anderen aus dem Boden. Bis 2022 soll Schätzungen zufolge allein der europäische KI-Markt zehn Milliarden Euro schwer sein, die jährlichen Zuwachsraten sollen bei fast 40 Prozent liegen, hat die Gartner-Group publiziert. Es wird investiert auf Teufel komm raus.
Diese Investments wollen natürlich wieder verdient werden. Es geht also um Marktmacht.
STANDARD: Herr Gatterer, ich fürchte mich vor künstlicher Intelligenz und ihrem von Macht- und Wirtschaftlichkeitskriterien getriebenen Einsatz. Bin ich eine Fortschrittsverweigerin?
Gatterer: Kein Wunder, dass Sie sich fürchten. Es ist ja auch so, dass wir zu KI beides haben: Überschätzung und zugleich Unterschätzung in den systemischen Auswirkungen. Die kollektive Verunsicherung, die den Prozess der digitalen Transformation schon generell begleitet, wird durch diese neue technologische Qualität und Komplexität auf eine neue Stufe gehoben. Das Resultat sind simplifizierende und polarisierende Mensch-Maschine-Erzählungen, die den aktuellen KI-Diskurs dominieren: auf der einen Seite euphorische KI-Utopien und eine quasireligiöse Hoffnung auf maschinelle Superintelligenz – auf der anderen Seite die dystopische Angst vor einer Unterwerfung der Menschheit durch intelligente Maschinen, Roboter und Algorithmen. Beide Narrative trivialisieren Technologie, indem sie die komplexe Dynamik soziotechnischer Fortschritte auf relativ simple und tendenziell lineare Szenarien reduzieren. Und sie überschätzen KI im Sinne eines magischen Denkens als Alleskönner, positiv wie negativ. Insbesondere in ökonomischen Kontexten ist KI deshalb zum Hype-Phänomen des digitalen Disruptionsdiskurses avanciert, zu einem Buzzword, mit dem sich jedes Unternehmen gern schmückt.
STANDARD: Entkommen wird man ihr jedenfalls bald nirgends mehr ...
Gatterer: Alles mit Strom wird versuchen, KI zu haben. Weil KI in nahezu jedem Produkt und jeder Lebenslage eingesetzt werden kann, belegt sie zugleich die Pole-Position in der Disziplin "Lösungen auf der Suche nach Problemen": KI wird heute in alle möglichen Gadgets gesteckt – in vielen Fällen ohne Sinn und Verstand, sondern schlicht, um zu zeigen, dass es geht.
STANDARD: Was alles geht, ist ja zu sehen: Verhaltensmanipulation durch Apps oder Social Media, der Missbrauch durch autoritäre und kriminelle Mächte oder die Erosion des öffentlichen Diskurses, die eine Beschädigung demokratischer Prozesse und den Aufstieg des Populismus vorantreibt ...
Gatterer: Viele Konsumenten machen die Erfahrung, dass KI-getriebene Smartifizierungen fragwürdig sind (was ist "intelligent" an einem sprachkontrollierten WC?) und KI in vielen Fällen ein Mehr an Unzuverlässigkeit und lästigem Aufgefordertwerden bedeutet, etwa in der Interaktion mit Sprachassistenten. Und Unternehmen stellen fest, dass KI nicht wie ein "magic dust" funktioniert, mit dem man eine Organisation von heute auf morgen "smart" macht, sondern dass die Implementierung von KI ein komplizierter und komplexer Prozess ist. Aber natürlich: Hinter jeder KI steckt das Weltbild – oder die Absicht – der Programmierer. Und das sind häufig verhaltensökonomisch getriebene Weltbilder.
STANDARD: Die zumindest auf Abhängigkeit ausgerichtet sind ...
Gatterer: Ja, im Prinzip. Und kriminelles Verhalten ist auch da. Der Einsatz für Überwachung, die in China bis zu Kreditpunkten für oder gegen die Teilhabe an der Gesellschaft reicht, ist da. Und wir sehen jetzt, dass genau das, nämlich die Möglichkeit des Missbrauchs, uns fordert. Es ist jetzt an der Zeit, Grenzlinien zu ziehen. Gerade weil KI eine so mächtige Technologie ist, gilt es, sie klug und reflektiert einzusetzen, um die Wirtschaft und Gesellschaft von morgen konstruktiv zu gestalten. Die Zeit ist jetzt reif für eine neue, aufgeklärte und pragmatische Perspektive auf KI. Dafür brauchen Unternehmen nicht nur ein klares Verständnis dessen, was KI tatsächlich ist und leisten kann, sondern vor allem ein neues Mindset: einen konstruktiven und zukunftsoffenen Blick auf KI-basierte Gestaltungspotenziale – und den Mut, aktiv mit lernenden Maschinen zu operieren, zu kooperieren. Da ist ja auch vieles im Gange in der Ausarbeitung von Ethikregeln, etwa die globale Vereinigung der Programmierer, die an einem globalen Ethikregelwerk arbeitet.
STANDARD: Wird da nicht der Bock zum Gärtner? Die stehen ja vermutlich überwiegend bei Konzernen in Lohn ...
Gatterer: Es ist ein freier Zusammenschluss außerhalb der Unternehmen – und einige der globalen Unternehmen haben schon gesagt, dass sie sich solchen Ethikregeln unterwerfen werden.
STANDARD: Zur Notwendigkeit der Grenzziehung und zum persönlichen Ohnmachtsgefühl: Wer kann denn Grenzen ziehen? Ich kann in Teilbereichen entscheiden, anzuwenden oder nicht anzuwenden. Da ist aber bald Schluss, weil KI kein isoliertes Ding ist – irgendwann kicke ich mich aus dem Spiel, wenn ich verweigere. So wie vor einigen Jahren in Bewerbungsprozessen, wenn gar keine elektronische Spur zu finden war ... Da fällt mir der Kabarettist Josef Hader ein: "Topfpflanzen, gehts spazieren" ...
Gatterer: Ich glaube, dass die Entwicklerszene ein wirklich großes Momentum hat. Diese Initiative ist kein Greenwashing-Verfahren! Es sind natürlich alle Wissenschaften gefordert, und an den Unternehmen wird es auch liegen. Sogar Elon Musk bemüht sich um Transparenz, weil er weiß, dass er sonst keine Akzeptanz erhält. Ich schreibe der kollektiven Kraft der Grenzziehung offenbar viel mehr Macht zu als Sie. Zwischen Technotopia und Retropia liegt sehr viel, und in den kommenden Jahren geht es darum, dass wir KI neu verstehen.
STANDARD: Das mit dem Angstnehmen hat nicht ganz funktioniert. Was werden wir alle in den kommenden fünf, zehn Jahren sehen?
Gatterer: Wir werden erleben, dass KI nicht perfekt ist, dass sie vielleicht nur zu 80 Prozent ihre Jobs erfüllt und nicht alles ersetzen kann. Wir werden sehen, dass mehr Daten auch ein Mehr an Erfahrung braucht. Wir werden sehen, dass mehr Maschineneinsatz ein Mehr an Mitmenschlichkeit braucht. Wir werden erleben, dass die menschliche Resonanzerfahrung, das, was sich hier und jetzt im wirklichen Raum abspielt und emotional entsteht, der zentrale Ausgangspunkt für unsere Interaktionen ist. Wir werden auch mehr Nützliches und Hilfreiches erleben, es gibt ja bereits unheimlich tolle Fortschritte auf den verschiedensten Gebieten – denken wir einmal an die Medizin beispielsweise. Es werden sich sehr viele neue Fragestellungen auftun – genau an diese Öffnungen glaube ich.
STANDARD: Also eine Hinführung zur Frage aller Fragen: Wer sind wir als Menschen, wer oder was wollen und können wir sein?
Gatterer: Ja. Mehr als acht Milliarden Menschen müssen sich intensiv mit ihrer Zukunft und ihrem Planeten auseinandersetzen. Solche Weiterentwicklungsprozesse sind – das wissen wir ja – nicht immer angenehm. In den Fokus rückt dabei das Thema Human Computation: die Frage, wie ein kooperatives Miteinander von Mensch und Maschine aussieht. KI wird die menschliche Intelligenz nicht ersetzen. Aber sie kann sie komplementär und kreativ erweitern, etwa im Rahmen nichtautonomer Systeme, in denen Maschinen unterstützen, aber der Mensch final entscheidet. Dieser Shift hin zu diesen Mensch-plus-Maschine-Umwelten ermöglicht – und erfordert – auch ein Upgrade der menschlichen Intelligenz und Empathie. Die nächste Gesellschaft wird eine "kognifizierte" Gesellschaft sein: eine Welt, in der kognitive Technologie zum ubiquitären Gebrauchsgegenstand wird. Um diese Gesellschaft mitzugestalten, müssen wir uns heute selbstbewusst der Frage zuwenden: Wie wollen wir in Zukunft leben, und auf Basis welcher Werte wollen wir KI nutzen?
So wie KI heute tendenziell überschätzt wird, wird ihr potenzieller Nutzen, insbesondere in der Verbindung mit Robotics und dem Internet der Dinge, zugleich stark unterschätzt. Die Rahmenbedingungen für die KI-Welt von morgen werden heute geschaffen – und Unternehmen spielen dabei eine tonangebende Rolle. Richtig angewandt kann KI uns nicht nur helfen, den Alltag zu vereinfachen und Produktionsverfahren ressourcenschonender zu organisieren, sondern auch den öffentlichen Raum sicherer zu machen, gesünder zu leben und globale Krisen zu lösen. Schon heute rettet KI im Gesundheitsbereich Leben – künftig könnte sie dazu beitragen, sämtliche Domänen menschlicher, nachhaltiger und gerechter zu gestalten, von Energie über Mobilität bis zu Bildung. Damit eröffnet KI zugleich eine neue Ära der Rehumanisierung und der Sinnarbeit. Der Einsatz von KI verändert unser Selbstverständnis, macht den Menschen wieder menschlicher und bietet die Chance, die Gesellschaft sozialer und humaner zu gestalten. (Karin Bauer, 6.4.2019)