Über Langeweile kann sich Verfassungsgerichtshofpräsidentin Brigitte Bierlein nicht beklagen. Das Höchstgericht muss wieder einige Regierungsvorhaben auf seine Verfassungskonformität prüfen. Dass das zugenommen hätte, sieht Bierlein im STANDARD-Gespräch aber nicht so: "Der Gesetzgeber hat immer versucht seinen Gestaltungsspielraum möglichst breit auszulegen."

Skeptisch äußert sich die sonst um Distanz zur Tagespolitik bemühte Bierlein zur geplanten Sicherungshaft von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ), sie sieht darin "einen klassischen Fall von Anlassgesetzgebung", der Schutz der persönlichen Freiheit sei in der Verfassung geregelt, eine Präventivhaft kenne diese nicht.

Der Verfassungsgerichtshof wird sich erneut mit der Vorratsdatenspeicherung und dem Sicherheitspolizeigesetz befassen: Bierlein verweist darauf, dass das Höchstgericht hier schon "große Pflöcke eingeschlagen" habe, frühere Entscheidungen werde berücksichtigt.
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STANDARD: Nach der Ermordung des Chefs der Sozialabteilung in Dornbirn hat Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) eine Sicherungshaft vorgeschlagen: Wie bewerten Sie das?

Bierlein: Das wäre ein klassischer Fall von Anlassgesetzgebung. Wir haben in Österreich aus gutem Grund ein Verfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit, das über die Menschenrechtskonvention noch hinausgeht. Darin sind die Tatbestände, nach denen ein Mensch in Haft genommen werden kann, ausdrücklich geregelt. Eine Präventivhaft ist nicht dabei. Die Anlassfälle sind natürlich schrecklich. Und der Staat hat die Verpflichtung, die Bevölkerung zu schützen. Dennoch ist die persönliche Freiheit eines der höchsten Güter.

STANDARD: Unter welchen Voraussetzungen wäre es vorstellbar, eine Gefährdungsprognose über einen Menschen zu erstellen?

Bierlein: Ich bin skeptisch, was eine Präventivhaft anlangt. Gerade bei unbescholtenen Menschen ist es kaum möglich, eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit einer bevorstehenden Tat abzugeben. Es gibt europäische Staaten, die eine solche Maßnahme kennen. Diese Länder haben allerdings kein Verfassungsgesetz wie wir. Wenn die Regierung das Vorhaben weiterverfolgen will, bräuchte sie eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, außerdem müsste ein solches Gesetz angemessen und maßhaltend sein.

"Recht hat natürlich Vorrang vor der Politik, vor allem das Verfassungsrecht", sagt Bierlein über das von Innenminister Kickl infrage gestellte Verhältnis von Recht und Politik.
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STANDARD: Sie haben dazu aufgerufen, wachsam zu sein, die Verfassung zu schützen. Ist das heute notwendiger als früher?

Bierlein: Anders als in anderen europäischen Staaten ist die österreichische Verfassung als Grundlage staatlichen Handelns unbestritten ...

STANDARD: ... deren Grenzen von der Politik permanent ausgereizt werden, oder?

Bierlein: Das war in früheren Regierungskonstellationen auch so. Der Gesetzgeber hat immer versucht, seinen Gestaltungsspielraum möglichst breit auszulegen.

STANDARD: Geschieht das auch beim Überwachungspaket, auf dessen Basis seit Mai bereits 2,9 Millionen Kennzeichen beliebiger Bürger gespeichert wurden?

Bierlein: Natürlich muss der Staat die Sicherheit seiner Bürger schützen. Gleichzeitig gilt es, Freiheit und Privatsphäre des Einzelnen zu wahren. Das Sicherheitspaket wird derzeit beim Verfassungsgericht angefochten, also kann ich dazu nichts Näheres sagen. Allerdings haben wir beim Datenschutz schon große Pflöcke eingeschlagen – etwa 2007, als der Gerichtshof entschieden hat, dass die Section-Control maßhaltend sein muss. Das heißt, es muss eine Verordnung geben, die den Bereich der Section-Control räumlich eingrenzt. Oder denken Sie an die Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung 2014: Das Gesetz war unverhältnismäßig, weil anlasslos Datenmengen von Unbescholtenen gespeichert wurden, ohne Verdacht auf schwere Straftaten.

STANDARD: Aber geschieht nicht genau das bei der Kfz-Überwachung?

Bierlein: Diese Frage entscheidet der Verfassungsgerichtshof in absehbarer Zeit. Dabei werden die bisherigen Entscheidungen zweifellos berücksichtigt – es ist ein Balanceakt. Fraglich ist, ob die Forderung nach mehr Sicherheit auch Maßnahmen rechtfertigt, die zwangsläufig mit weitreichenden Eingriffen in die Privatsphäre verbunden sind.

STANDARD: Was löst es eigentlich bei Ihnen aus, wenn Innenminister Kickl erklärt, das Recht habe der Politik zu folgen?

Bierlein: Tagespolitische Äußerungen kommentiere ich nicht.

STANDARD: Anders gefragt: Sie verorten das Höchstgericht als Schnittstelle zwischen Politik und Recht – wer soll also wem folgen?

Bierlein: Recht hat natürlich Vorrang vor der Politik, vor allem das Verfassungsrecht. Selbstverständlich ist die Gesetzgebung Sache gewählter Volksvertretungen.

"Da ist ein gewisser Lernprozess erfolgt": Verfassungsgerichtshofpräsidentin Brigitte Bierlein über Höchstrichter Michael Rami, der wiederholt FPÖ-Politiker vertrat.
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STANDARD: Auf Betreiben Kickls diskutieren wir nicht nur über die Menschenrechtskonvention, sondern auch über einen Stundenlohn von 1,50 Euro für Asylwerber, die Hilfstätigkeiten leisten. Hat ein derartiges Vorgehen langfristige Folgen für den Rechtsstaat?

Bierlein: Ein sensibles Thema. Auch Zivildiener erhalten nicht mehr als diesen Betrag. Es ist Sache der Politik, wie sie das regelt. Offenbar handelt es sich um eine Sparmaßnahme, das trifft nicht nur Asylwerber.

STANDARD: Statt Sparmaßnahme könnte man auch Drangsalierung dazu sagen. Ist das noch verhältnismäßig?

Bierlein: Es ist dabei Augenmaß gefragt. Wie gesagt, scheint sich der vorgesehene Betrag an der Vergütung zu orientieren, die Zivildienern zusteht.

STANDARD: Immer wieder hat Verfassungsrichter Michael Rami die FPÖ vertreten. Erst unlängst hat er als Anwalt von Innenminister Kickl erst nach Prozessbeginn sein Mandat zurückgelegt. War das zu spät?

Bierlein: Michael Rami hat sich bereits davor in allen Fällen, an denen die FPÖ oder Funktionäre dieser Partei beteiligt waren, für anscheinsbefangen erklärt. Im Verfassungsgerichtshof gelten äußerst strikte Befangenheitsregeln. Kein Verfassungsrichter darf in Hinkunft politische Amtsträger vor Gericht vertreten.

STANDARD: Gilt das auch für die Kanzlei von Michael Rami?

Bierlein: Das ist im Einzelfall zu prüfen.

STANDARD: Dennoch: Rami war schon knapp ein Jahr Verfassungsrichter, ehe er die Verteidigung Kickls zurückgelegt hat.

Bierlein: Da ist ein gewisser Lernprozess bei Dr. Rami erfolgt. (Marie-Theres Egyed, Karin Riss, 6.4.2019)