"Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen."

George Orwell, "Farm der Tiere"

Die Lage ist verrückt, ja, eigentlich ein Witz. Es ist ein wenig wie in der amerikanischen Serie The West Wing, in der folgendes Gleichnis erzählt wird: "Was ist der Unterschied zwischen einem Pessimisten und einem Optimisten? Ganz einfach: Der Pessimist sagt: 'Schlimmer kann's nicht mehr werden!' Der Optimist aber sagt: 'Doch, das geht!'"

Wem jetzt das Lachen im Hals stecken bleibt, der ist wenigstens noch bei Trost. Denn das "Doch, das geht!" ist zur Pointe unserer Zeit geworden. Übertreibungen überall. Allgegenwärtig ist das Geraune und Empören der "Wohlmeinenden", der "besorgten Bürger", der Vaterlands- und Weltuntergangsbeschwörer – das Mittelalter ist zurück und mit ihm Menschen, die zu allem eine ausgesprochene Meinung haben, aber von nichts eine Ahnung.

Polarisierung und Dauererregung besorgen Populisten aller Lager das Geschäft. Wer nicht auf eine Politik der Gefühle setzt, auf Extremismus, der macht kein Geschäft. Es gibt kein Entrinnen. Das Politische ist privat, was so viel bedeutet wie: Der Blödsinn dringt durch jede Ritze, es gibt keine Rückzugsorte mehr.

Dafür braucht man weder Twitter noch Facebook, auch wenn diese sich als taugliches Kriegsgerät entpuppen. Haltung, ein großes Wort, ist zum Dogma geworden. Statt eines aufrechten Gangs kommt bei den extremen Positionen eine Fehlhaltung heraus, eine krumme moralische Keule, mit der auf alle, die nicht einig sind, eingedroschen wird.

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Ein falsches Wort genügt. Ein Like für jemanden, der in Verdacht steht, unter Verdacht zu stehen. Kennt der jemanden, der jemanden kennt? Na bitte. Schuldig ist, wer nicht zustimmt, nicht mitmacht, die Petition nicht unterschreibt und demonstriert, auf der richtigen Seite zu stehen – auf der einzig richtigen, versteht sich.

Die meisten Leute haben etwas falsch verstanden. Totalitarismus ist keine politische Theorie, es ist die Praxis des Hinterfotzigseins aus besten Motiven. Totalitarismus will alles, total eben.

Das klappt nur mit vielen Helfern, Opportunisten, Mitläufern, Denunzianten, Fanatikern einerseits und ebenso vielen, wenn nicht noch mehr "Beifang-Opportunisten", wie sie Taz-Chefreporter Peter Unfried kürzlich nannte: Leute, die sich an großen Weltthemen wie Klima, Flüchtlingspolitik, Betrugsfällen oder anderen Krisen vordergründig "engagieren", um unliebsame Gegner loszuwerden und die eigene Karriere zu befördern. Das übliche Krisengewinnlergesindel eben.

Das Rechts-links-Problem

Diese ganze Blockwartmischung ist ständig auf der Jagd nach irgendwelchen Schuldigen und blökt: Haltet den Dieb! Das ist kein Privileg der Rechten, war es nie. Der scharfsinnige Menschenkenner Stefan Zweig schrieb: "Rechts ist Übertreibung und links ist Übertreibung, rechts Fanatismus und links Fanatismus." Zweig hat das in seinem Essay Triumph und Tragödie des Erasmus von Rotterdam geschrieben, 1934, als Österreich aufhörte, eine Demokratie zu sein. Dann galt bald, was das Schlimmste anging: "Doch, das geht!"

Sicherlich: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie geht in Wiedervorlage, wenn wir vergessen, dass Differenzierung und Vielfalt, Toleranz und Dialogfähigkeit keine hübschen Phrasen sind, sondern die Grundlage unserer Existenz. Wo Menschen in Extremen denken und reden, gilt der Satz, der in Zweigs Erasmus die prominenteste Rolle spielt: "Hier stehe ich und kann nicht anders."

Was Luther aussprach und seinen Charakter kennzeichnete, gilt zu allen Zeiten. Die Formel der Alternativlosigkeit ist der Vorbote größten Unglücks. Wer nicht anders kann, der muss. Der hat keine Wahl. Dem semantischen Totschlag folgt bald der echte. Der Satz ist ein Verzicht auf die freie Wahl, die selbstständige Entscheidung.

Hannah Arendt hat aus gutem Grund gerade an diese das Menschlichsein geknüpft. Wer nur mitläuft, der Propaganda, gleich welcher, auf den Leim geht und vor allen Dingen meint, es gäbe zur eigenen Moral und Überzeugung nicht auch noch andere und anderes, der hat es nicht zum Menschen gebracht.

Haltung ist dann Starrsinn. Der Zweck heiligt die Mittel. Wir sehen: Der Schreibtischtäter und die Fundamentalistin sind aus dem gleichen Holz.

Alle Fürchterlichen berufen sich stets auf den Sachzwang. Ist es nicht höchste Zeit, droht nicht der Untergang? Wäre Nachgeben nicht Aufgeben? Es geht immer um alles, das Totale eben, denn die Mutter des Totalitären kennt nur Leben oder Tod. Daran erkennt man den Unmenschen, wie immer er sich auch gebärdet. Er sagt: Wer zweifelt, ist zynisch.

Das ist eine Lüge.

Der Zweifel ist der Weisheit Anfang. Das galt für René Descartes und Galilei, für Giordano Bruno und jeden mutigen echten Weltverbesserer, der sich nicht auf Worte und Rituale, sondern Taten und Erkenntnisse stützte. Nein, Zweifler haben nicht recht, aber sie sind auf dem richtigen Weg. Sie suchen Fragen, wo andere, die Fürchterlichen, schon eine Antwort haben. Man erkennt sie an ihrer makellosen Haltung, an ihrer eindeutigen Überzeugung. Das ist bei Fanatikern und Manipulanten so und bei Verrückten. Es geht immer ums Ganze. Total. Hier stehe ich und kann nicht anders. Leben oder Tod.

Dieser üble Trick garantiert freie Aggressionsausübung unter dem Deckmantel des Notwendigen. Die Behauptung, man handle also in Notwehr, ist eine totalitäre Ausrede.

Krise der Eliten

Dass das heute wieder in die Breite geht, ist der Transformation geschuldet. Die Zeiten der Massengesellschaft, des Industriezeitalters und ihrer Versprechungen und Scheinsicherheiten gehen zu Ende. Modernisierungsverlierer und Veränderungsängstliche sind heute in allen Klassen und Schichten angesiedelt. Die alten Eliten haben keine Antworten, im Gegenteil. Die Verunsicherung, mit dem Neuen umzugehen, durchzieht auch Parteien, Institutionen, Medien und ihre Vertreter. Sie alle wissen: Ihre Zeit ist vorbei.

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Demokratie ist das Management von Vielfalt. Und das Gegenteil von total, alternativlos.
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Die alten Eliten verstehen von der Wissensgesellschaft wenig, sie reden über Digitalisierung und ahnen die breite kulturelle und soziale Innovation, die damit verbunden ist. Sie fühlen sich bedroht. Sie verstehen die Welt nicht mehr.

Die unselige Polarisierung in links und rechts war eine absehbare Transformationsfolge, die sich nicht aussitzen lässt. Es braucht Zusammenhangswissen, Allgemeinbildung, Aufklärung und die Bereitschaft, das Neue positiv anzunehmen. Was daraus zu machen. Eine Gesellschaft, die glaubt, sie habe mehr zu verlieren als zu gewinnen, zieht sich in ihre skurrilen Milieus zurück und grenzt sich ab gegen alles, was sie nicht bestätigt. Polarisierung ist ein Phänomen, das in satten Wohlstandsgesellschaften stärker zutage tritt als anderswo. Man ist selbst im Untergang der eigenen Selbstherrlichkeit noch gemütlich.

Das merkt man an den kurzlebigen Empörungswellen, die geistiges Fastfood sind, nicht selbstgemachtes Denken, sondern einfach Haltung to go, zum schnellen Runterschlingen. Was sich als Widerstand aufspielt, ist oft nur Moralkonsum.

Am besten schmeckt's mit Leuten, die den gleichen Geschmack haben. Relevant ist nur die Selbstbestätigung in der Gruppe. Dort versteht man die Welt noch, kann "authentisch" sein und "sich identifizieren" mit den anderen. Kurz: Es gibt nur noch Identitäre, die sich selbst bestätigen. In der Demokratie, das haben immer noch viele nicht kapiert, geht es nicht um den Sieg "der guten" oder der "gerechten Sache". Es geht nicht um "gut" und "böse", "richtig" und "falsch".

Das Gegenteil von total

Demokratie ist ein Modell zur Organisation von Vielfalt und Unterschieden, ein "komplizierter Mechanismus", so der Soziologe Armin Nassehi, "der es ermöglicht, in Alternativen zu denken".

Demokratie ist das Management von Vielfalt. Und das Gegenteil von total, alternativlos. Das wirkliche Leben ist sowohl als auch, nicht entweder oder.

Warum wurde und wird das Kindern und Erwachsenen in Schulen, Elternhäusern, von Politikern und Wichtigtuerverbänden aller Art eigentlich nicht gründlich beigebracht? Warum glauben heute so viele ans Alternativlose?

Lehrt gefälligst den Zusammenhang zwischen echter Toleranz und gutem Fortschritt. Lehrt gefälligst die Regeln der Demokratie und Aufklärung. Leute, die so etwas wissen, sind vielleicht ein wenig langweilig, aber dafür vernünftig. Sie sind wirklich cool und nicht besoffen von ihren eigenen Ideen. Um mit dem alten Karl Marx zu sprechen: Sie sehen sich und ihre Beziehungen mit nüchternen Augen an.

Solche Leute stehen nicht einfach rum und können nicht anders. Sie suchen reale Lösungen für reale Probleme. Sie machen ihre Arbeit. Sie stehen auf eigenen Beinen. Sie denken selbst, sie entscheiden selber. Entpört euch also, regt euch ab. Doch, das geht.

Alles andere ist ein Witz. (Wolf Lotter, 7.4.2019)