"Ordaaaa!" Den Ruf des britischen Parlamentspräsidenten John Berkow kennt mittlerweile jedes Kind. Der Brexit-Prozess hat in den vergangenen zwei Jahren in der EU, vor allem politisch, Spuren hinterlassen. 2016, nach der Brexit-Abstimmung, jubelten Vorzeige-Rechte wie Frankreichs Marine Le Pen noch über den "Sieg der Freiheit" und forderten den Austritt auch für ihre Nationalstaaten. Mittlerweile ist der britische EU-Abschied als politische Blaupause tot.

Zu viel Chaos, zu viel Ungewissheiten haben die vergangenen beiden Jahre im Ringen um eine Lösung erzeugt – zusätzlich zu den globalen Unwägbarkeiten, die ohnehin im Raum stehen. In diesem Licht hat die EU als sicherer Hafen an Profil gewonnen. Im Austrittsprozess haben die EU-27 sogar eine Geschlossenheit wie selten ausgestrahlt: Sie sprachen mit einer Stimme, ließen den Chefverhandler Michel Barnier machen, sendeten kaum widersprüchliche Signale.

Nach den massiven Streitigkeiten um die EU-Migrationspolitik und den jahrelangen "Schlachten" um Euro-Politik und Griechenland-Krise kam das der Sehnsucht der Bevölkerung nach Stabilität in unsicheren Zeiten so entgegen, dass die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zur EU als Konstrukt im Allgemeinen sogar zunahm. Laut dem aktuellen Eurobarometer sehen die Europäer die EU derzeit weitgehend positiv. In Österreich ist die Zustimmung sogar auf einem Rekordniveau: 75 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen verstehen sich als Unionsbürger. Das sind vier Prozent mehr als im EU-Durchschnitt.

Öxit, Frexit, Dexit adieu

Die EU in ihrer Gesamtheit infrage zu stellen ist da nicht mehr so populär. Aus dieser Erkenntnis haben die rechtspopulistischen Kräfte in den EU-Mitgliedsländern ihre Konsequenzen gezogen und längst einen politischen Strategiewechsel vollzogen. Nicht mehr der Öxit, Frexit, Dexit, Tschexit oder Italexit prägen die politischen Programme: Die EU soll jetzt nach nationalen Bedürfnissen "reformiert" oder gar von innen heraus "auf Kurs" gebracht werden.

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Die EU-Gegnerin Marine Le Pen kündigte Ende 2016 an, dass sie im Fall ihres Sieges bei der französischen Präsidentschaftswahl den Austritt Frankreichs aus der EU mithilfe eines Austrittsreferendums betreiben werde. Im Wahlkampf 2017 redete sie auch noch dem Ausstieg aus dem Euro das Wort. Sie verlor und änderte Parteilinie und Parteinamen: "Rassemblement National" statt "Front National". Heute ist keine Rede mehr vom Ziel, die EU zu "zerstören".
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Im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 hatte Marine Le Pen, die Chefin des Rassemblement National (RN), noch den Ausstieg aus dem Euro, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen oder auch die Rückführung der gemeinsamen EU-Agrarpolitik in nationale Kompetenz gefordert – und verloren. Um das "weichere" Image ihrer Rechtspartei zu betonen, wurde sogar der Parteiname geändert. "Bewegung" statt "Front". Keine Rede mehr vom Ziel, die EU zu "zerstören", wie noch 2017.

Der neue Shootingstar der niederländischen Politik, der Rechtspopulist Thierry Baudet, schlägt in die neue Kerbe. Österreichs rechte Regierungspartei FPÖ ist mit ihren Forderungen vorsichtiger. Als Steilvorlage für den EU-Wahlkampf greifen die Blauen lieber wieder auf das Thema Migration zurück. Als "EU-kritische Reformpartei" sieht man sich, betont FPÖ-Generalsekretär, EU-Abgeordneter und Wahlkampfmanager Harald Vilimsky.

Keine Rede mehr vom Öxit. Vilimsky stellt heute sogar in Abrede, dass die FPÖ den EU-Austritt im Zuge des Wahlkampfs von Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer 2016 gefordert hat – obwohl Presseaussendungen via APA das eindeutig belegen. Man habe dazu ja nur "das Volk" befragen wollen, heißt es heute.

Rechtspopulisten-Allianz Salvinis

Der Strategiewechsel der Populisten scheint in vielen Ländern zu funktionieren. Der Höhenflug vieler rechtspopulistischer Parteien wurde zumindest bisher noch nicht gebremst. Trotz Brexit-Chaos und hoher EU-Zustimmung wächst die Macht der Rechtsparteien – bei den Wählern und realpolitisch. In neun europäischen Ländern sind rechtspopulistische Parteien an der Regierung beteiligt. Italiens Innenminister Matteo Salvini, Chef der rechtsextremen Regierungspartei Lega, hofft sogar auf eine "Revolution" im Straßburger Europaparlament.

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Der italienische Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini will eine große Allianz europäischer rechtspopulistischer Parteien für die EU-Parlamentswahl Ende Mai.
Am 8. April lädt er zur Konstituierung nach Mailand. Die FPÖ hat angekündigt, dem Bündnis beizutreten, wird aber am Montag keinen Vertreter senden. Der freiheitliche EU-Parlamentarier Harald Vilimsky soll seit Monaten diskrete Gespräche mit Parteien wie der polnischen PiS oder der Fidesz von Viktor Orbán führen.
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Salvini plant die Gründung einer Allianz rechtspopulistischer Kräfte, der sich auch die FPÖ und Le Pens Rassemblement anschließen wollen. Eines der Masterminds dahinter ist Vilimsky, der seit Monaten diskrete Gespräche mit der polnischen PiS und der Fidesz des ungarischen Premierministers Viktor Orbán führt. Sein Ziel: eine große rechte Fraktion statt derzeit drei, deren politisches Spektrum von konservativ bis ganz rechts reicht. Einen Rückschlag gab es zuletzt: Fidesz zeigte sich distanziert, man sehe die Zukunft in der konservativen EVP.

Kern des Unterfangens ist die Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheit" (ENF), die von Le Pen, Salvini und Vilimsky 2015 im EU-Parlament ins Leben gerufen wurde. Sie hat derzeit nur 37 von 751 Sitzen in Straßburg, die Le-Penisten dominieren mit 20 Mandaten. Salvinis Lega hat nur sechs Mandate, die FPÖ vier. Politisch ist die ENF vernachlässigbar. Sie wird von den übrigen sieben Fraktionen im Parlament auch isoliert: Es gibt keinerlei Kooperation mit ihnen. Das will Vilimsky drehen: An einer neuen, etwas gemäßigteren Rechtsfraktion sollten die anderen nicht mehr vorbeikommen. Der FPÖ-Mann will mitbestimmen und hofft auf eine Fraktionsstärke von mehr als 100 EU-Abgeordneten – als drittstärkste Gruppe gleich hinter den Sozialdemokraten.

Neue rechtspopulistische Allianz

Dafür gibt es wieder einen neuen Namen: "Allianz der europäischen Völker und Nationen" soll das Wahlbündnis jetzt für die EU-Wahl heißen, das sich Berichten zufolge am Montag in Mailand formieren will. Mit 33 Prozent der Stimmen dürfte Salvinis Lega laut jüngsten Umfragen die stärkste Einzelpartei bei den EU-Wahlen in Italien werden. Das könnte bedeuten, dass die Lega in Straßburg auf 30 oder mehr Mandate käme. Italien ist ein großes EU-Land, stellt insgesamt 73 EU-Abgeordnete – einen weniger als Frankreich.

Ähnlich ist die Lage für die Rechten in Frankreich, wo Le Pens Rassemblement National aktuell mit 20 Prozent nur knapp hinter Macrons En Marche liegt. Allerdings: Der RN könnte sogar Mandate verlieren, weil Le Pen bei den EU-Wahlen 2014 bereits auf Platz eins gekommen ist. Der neue Dominator wäre die Lega. In den Niederlanden liegen die Rechtspopulisten bei 13 Prozent. Selbst in Schweden würden die rechten Schwedendemokraten aktuell mit etwa 18 Prozent die zweitstärkste Partei. Nationale Egoismen kommen bei den Wählern an.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron konkretisierte vor einem Monat nochmals seine Visionen für Europa in einem Brief in 22 Sprachen, den er in allen 28 EU-Ländern veröffentlichte. Nationalisten, so betonte er darin, dürften die "Wut der Völker" nicht ausnutzen. Es sei an der Zeit zu handeln: Europa sei noch nie in so großer Gefahr gewesen. Mit der populistischen Regierung in Italien ist Macron zutiefst zerstritten.
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Die Proeuropäer sind alarmiert. Im März schrieb Emmanuel Macron ein flammendes Plädoyer für ein starkes Europa, adressiert an alle Europäerinnen und Europäer. "Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr", warnt Macron in einem Gastbeitrag, der in zahlreichen Zeitungen erschien. Der Franzose verschärft seinen Tonfall seit Monaten deutlich und bezeichnet die Europawahlen als "Richtungsentscheidung". Le Pen oder ich – das ist Macrons Modell, das sich aus dem französischen Mehrheitswahlrecht ergibt, in dem der Gewinner in den Wahlkreisen alles abräumt.

Auf die gesamte EU umgelegt ist das aber komplizierter, weil bei EU-Wahlen Verhältniswahlrecht gilt. Eine deutliche Stärkung können die Rechten auch von Deutschland erwarten, das mit 96 Mandaten in Straßburg vertreten ist. Die Alternative für Deutschland (AfD) liegt in Umfragen bei 14 Prozent, könnte also die von Salvini und Vilimsky angestrebte Plattform mit etwa so vielen Abgeordneten stützen.

Unsicherheitsfaktor Brexit

Ob all diese Planspiele aufgehen, ist durch die jüngste Entwicklung ausgerechnet beim Brexit aber wieder unsicher. Sollte Großbritannien vor den EU-Wahlen nicht aus der Union austreten, müsste das Land wieder an der Wahl teilnehmen. Das könnte heißen: Nach der Neukonstituierung des EU-Parlaments gibt es weiter drei Rechtsfraktionen, wobei zwei von den Briten dominiert werden: die Fraktion der "Konservativen und Reformer" (ECR), die von den Tories angeführt wird und in der auch die polnische PiS vertreten ist; und die Fraktion der "Freiheit und direkten Demokratie" (EFDD), die von Nigel Farage und seiner Ukip gegründet wurde, der er selbst aber nicht mehr angehört.

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Sollte Großbritannien vor den EU-Wahlen nicht austreten, muss es teilnehmen. Für die Rechtsallianz von Salvini wäre das keine angenehme Botschaft. Das könnte heißen: Es gibt nach der Neukonstituierung des EU-Parlaments weiterhin drei Rechtsfraktionen wie bisher, wobei zwei von den Briten angeführt und dominiert werden. Der britische EU-Parlamentarier Nigel Farage will das nicht: "Wollen Sie wirklich, dass ich wiederkomme?", rief er bei der letzten Plenarsitzung in Straßburg.
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In diesem Fall könnten die Träume von der einigen rechten Fraktion im EU-Parlament platzen. Farage drohte bei der letzten Plenarsitzung in Straßburg mit einem solchen Szenario: "Wollen Sie wirklich, dass ich wiederkomme?", rief er in den Saal. Wenn der Brexit aufgeschoben werde, kämpfe er wieder um ein EU-Mandat, sagte er.

Dann geht alles wieder von vorn los im rechten Sektor in Straßburg. (Manuela Honsig-Erlenburg, Thomas Mayer, 6.4.2019)