Zum 20. Geburtstag der STANDARD-Community haben wir Poster um einen Kommentar der anderen gebeten. Christoph Landerer hat bereits über "Die Essenz der Demokratie" geschrieben, Alfred J. Noll über seine Motivation zu posten. Walter Gröbchen, Musikverleger, Autor – und ja, ebenfalls Poster –, widmet sich in diesem Gastkommentar dem Onlinforum, das für ihn gleichsam virtueller Wirtshaustisch und Ort der Erkenntnis ist. Folgen Sie ihm!

Illustration: Felix Grütsch
Illustration: Felix Grütsch
"Das ist ein beinhartes Protestlied. Allerdings richtet sich die Kritik nicht gegen eine bestimmte Gruppe, sondern gegen jedermann, der sich betroffen fühlt. Auch gegen mich selbst."
(Arik Brauer, "Köpferl im Sand")

Nein, das ist kein Protestlied. Das ist ein Artikel. Welcher Natur, ist noch unklar. Mir. Ihnen. Ich schreibe einfach drauflos. Sie folgen mir. Aus diesem grundsätzlichen Autor-Rezipienten-Verhältnis muss wohl das längst im Alltag eingebürgerte Wort Follower stammen, das in Social Media seine Heimat hat. Oder hat man auch in traditionellen Medien Follower? Hier etwa. Meine Mutter schneidet jeden Beitrag, der meinen Namen trägt, mit der Papierschere aus. Und legt ihn fein säuberlich in einer Sammelmappe ab. Ich finde das etwas eigen, aber eine Mutter darf das. Man könnte sie als Follower bezeichnen. Können Sie mir folgen? Gut. Artikel ohne Leser sind Platzverschwendung.

Aber halt! Das ist doch einer der fundamentalen Unterschiede der alten und neuen Medienwelt: Platz gibt es online mehr als genug. Eine Zeitung musste gefüllt werden, sie muss es heute noch. Das World Wide Web ist nicht vollzukriegen. Selbst wenn eine Billion dressierter Affen rund um die Uhr in die Tasten hämmerten: Da gehen immer noch jede Menge Texte, Töne, Bilder, Filmchen, Witzchen, Memes rein. Endlich darf Karl Valentins lapidarer Satz "Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen" in Erfüllung gehen.

Mehr "rant"

Sie folgen mir immer noch? Das muss ernsthaftes Interesse sein. Oder sind Sie rein zufällig hier hereingestolpert? Willkommen in meinem bescheidenen Denkgebäude. Es ist ein Ort der Theorie. Ich bin hier auch nur Gast. Man hat mir einen "Kommentar der anderen" zugedacht. Aber ist das nicht ein alter Trick vorauseilender Distanznahme, die einen den einen und die anderen den anderen zuzurechnen? Man kennt mich im STANDARD-Forum, wenn überhaupt, als "verifizierten User". Will meinen: Man hat meine Identität überprüft, ich darf in Echtzeit posten, und man sagt mir nach, ein "wichtiger Teil des Diskurses" zu sein. Und doch bin ich: anders. Ich fürchte, liebe Redaktion, diese Trennung lässt sich nicht mehr lange aufrechterhalten. Content-Produzent ist heute fast jeder.

Apropos Content. Haben Sie schon herausgefunden, um welche Sorte Text es sich handelt? Eine Glosse? Eine Kontaktanzeige? Eine bewusste Provokation? Ist doch egal. Realität und Satire lassen sich bekanntermaßen nicht mehr zweifelsfrei trennen. Und das ist eine der neuen Qualitäten der Gegenwart: die spontane Äußerung, die unmittelbare Reaktion, der "rant" haben massiv zugenommen. Rein quantitativ, aber auch von der Gewichtigkeit her. Das liegt am und im Netz. Haben Sie schon versucht, nach der Lektüre eines Buches mit dem Autor spontan Kontakt aufzunehmen?

Ein Vorort der Hölle ...

Da Sie sich nicht abschütteln lassen, scheint Ihnen an Interaktion gelegen zu sein. Wollen Sie mir etwas sagen? Dann tun Sie es doch. Man hat im STANDARD ein Forum eingerichtet. Es existiert seit annähernd zwanzig Jahren – was mich, zugegeben, doch erstaunt. Das Alter ist ein Hund. Vielleicht verfasse ich auch ein Posting zu diesem privilegierten Textklotz, den Sie gerade studieren. Zu viel Tagesfreizeit? Die eigene ungehemmte Geschwätzigkeit lässt eventuell Rückschlüsse tiefenpsychologischer Natur zu.

Fällt mir etwas zu Ihnen ein? Ich kenne Sie ja nicht. Sie verbergen sich hinter Pseudonymen wie "Rotfunk", "Problembär", "Schlawiner1994" oder "isehwurscht", was ich in der Mehrzahl der Fälle nicht unwitzig finde. Sie scheinen ein grundsätzlich sympathischer Typ zu sein. Zumindest wenn Sie nicht den Choleriker raushängen lassen. Man sagt dem STANDARD-Forum ja nach, ein Vorort der Hölle zu sein. Eine Meinungskloake. Eine intellektuelle Folterkammer, in die man sich tunlichst nicht hineinbegeben dürfe. Jedenfalls nicht freiwillig.

... ein Ort der Erkenntnis

Ich sehe Sie schon in Rage geraten. Und die Tastatur scharfmachen für eine spontane Antwort. Wenn's zur Beruhigung beiträgt: Ich sehe das nicht so. Ich halte ein Onlineforum für eine wichtige, wertvolle, wesentliche Errungenschaft des digitalen Journalismus. Für einen Ort der Erkenntnis. Für ein mögliches Korrektiv. Und ich bin auch kein großer Freund von Filtern, Zensur und Moderation. Natürlich kann (und soll) man obsessive Sauereien und notorische Schimpftiraden löschen. Aber der virtuelle Gasthaustisch offenbart nun einmal vox populi in voller, dunkler, abgrundtiefer Pracht. Am liebsten gehen die Teilnehmer dieser Stammtischrunde ja gar nicht auf den einleitenden Artikel ein, sondern schnurstracks aufeinander los. Die Folklore des 21. Jahrhunderts: eine permanente Wirtshausrauferei. Das kann ernüchternd sein, beschämend, ja, verstörend in seiner Unmittelbarkeit. Und in seiner offensiven Dummheit, Destruktivität und Dominanz.

Aber es gilt auch das Gegenteil. Wer die Mühe nicht scheut, die Perlen aus der Buchstabensuppe herauszuklauben, wird auch das pure Gegenteil finden. Richtig Gescheites, Gewitztes, Gewinnbringendes. Man sollte, und das ist meine feste Überzeugung, als professionell kreativer Geist, der die Öffentlichkeit sucht und braucht, Onlineforen keinesfalls meiden. Ehrlicheres Feedback wird man nicht kriegen. Ich selbst darf mich nicht beschweren. Man kann das ja alles nachschlagen: Von meinen 39 Wortmeldungen haben die allermeisten grüne Stricherln erhalten, also positive Reaktionen. Nur unlängst, als ich einen launigen Satz zur EU-Urheberrechtsreform der Meute zum Fraß vorwarf, hagelte es rot. Aber: Gut so.

Wärmender Funkenschlag?

Wenn Meinung auf Meinung prallt, sprühen die Funken. Es ist das Geschäftsmodell von Facebook, Twitter und, ja, mit Abstrichen auch das des STANDARD, uns glauben zu machen, dieser Funkenschlag könnte uns dauerhaft wärmen. Und die Nacht erhellen. Aber wenn es nur einen einzigen Menschen da draußen gibt, bei dem dies wirklich der Fall ist, dann möge man nicht den Schalter umlegen. Sollte ich in den nächsten Jahren zu einer gegenteiligen Meinung gelangen – Ihr Input dazu ist ausdrücklich erwünscht! -, werde ich meine Mutter bitten, den gesammelten Papiervorrat zu verbrennen. Meine Onlineexistenz zu löschen. Und diesen Text gleich mit. (Walter Gröbchen, 6.4.2019)