Theresa May hat Donald Tusk einen langen Brief geschrieben. Darin ersucht die Premierministerin den EU-Ratspräsidenten nicht einfach nur um eine neuerliche Verschiebung des eben erst von 29. März auf 12. April verlegten Brexit-Termins. Sie lässt ordentlich Frust ab, zeigt Schwäche. Es ist ein einmaliges Dokument.

May erklärt unumwunden, dass ihre Regierung an der Umsetzung eines geordneten EU-Austritts gescheitert sei. Man stecke nun "in einer Sackgasse". Daher brauche sie mehr Zeit, wolle Chaos vermeiden, die Opposition für eine Kompromisslösung gewinnen, unter Umständen sogar EU-Wahlen durchführen, sofern das bis 22. Mai nicht gelinge.

Derart unumwunden hat wohl noch kein Regierungschef den Partnern in der Union sein Unvermögen erklären müssen und diese gleichzeitig dringend um Hilfe gebeten. May musste zugeben, dass es im Unterhaus beim Brexit keine Mehrheit für irgendetwas gibt. Einzige Ausnahme: Ein No-Deal-Brexit muss auf jeden Fall verhindert werden.

Fehleinschätzung

Auf letzteres Szenario haben die Brexit-Hardliner in Mays Partei seit dem fatalen Referendum 2016 hingearbeitet. Die Tory-Chefin hat den Fehler begangen, sich von Rechtspopulisten zu lange treiben zu lassen. Wenn sie diese gravierende Fehleinschätzung jetzt einsieht, ist das eigentlich ein gutes Zeichen. Die EU-Partner sollten die um Rettung ausgestreckte Hand Mays beim EU-Gipfel nächste Woche beherzt ergreifen.

Denn was sich seit Wochen und Monaten im Unterhaus abspielte, kann man nicht nur als peinliche Farce von egomanischen Parteien verstehen. Auf faszinierende Weise lässt es sich genau umgekehrt lesen: als Demonstration von lebendigem Parlamentarismus und Demokratie – so verrückt die Umwege und Umstände auch sind.

Es war eine unverantwortliche Tory-Regierung, die das Brexit-Experiment auf den Weg gebracht hat, das allen nur Schaden bringt. Das Unterhaus hat die Regierung gestoppt. Das gibt vielen verzweifelten Briten neue Hoffnung.

In vielen EU-Ländern gehen im Moment viele Menschen auf die Straße, weil sie sich von Regierungen "überfahren" fühlen; weil Parlamente oft zu reinen Abstimmungsmaschinen der Machthaber geworden sind. Insofern hat "das Chaos" in London sogar etwas Erfrischendes: Regierungen können Grenzen gesetzt werden. Das ist demokratisch, gut und sehr europäisch. Wir können von den Briten und ihren faszinierenden Debatten im Unterhaus lernen. (Thomas Mayer, 5.4.2019)