Googles Liste an eingestellten Apps ist heuer bereits beträchtlich gewachsen.

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Für eingeschworene Google-User hat das Jahr 2019 ziemlich schlecht begonnen: Allein in den vergangenen Wochen wurden mehrere einst groß angekündigte Dienste eingestellt. Neben dem Messenger Allo und dem sozialen Netzwerk Google+ ist es auch mit Inbox mittlerweile zu Ende. Nun ist es zwar durchaus verständlich, dass ein Unternehmen nicht jeden wenig genutzten Dienst ewig weiterentwickeln kann, gleichzeitig beschädigt dies aber auch das Vertrauen in die Firma. Immerhin fragen sich immer mehr Nutzer, ob es für sie überhaupt noch Sinn ergibt, einen neuen Google-Dienst auszuprobieren. So waren etwa zuletzt rund um die Vorstellung des Game-Streaming-Service Stadia zahlreiche entsprechende Kommentare zu vernehmen.

Vorgeschichte

Ein wirklich neues Phänomen ist all das allerdings nicht: Vielen wird noch die Einstellung des Google Reader in Erinnerung geblieben sein, die im Jahr 2013 für massive Kritik an dem Unternehmen sorgte – und die so manche User Google bis heute nicht vergeben haben. Ob es dabei wirklich stimmt, dass Google lieber Dienste einstellt als andere Hersteller oder ob das eher dem Umstand geschuldet ist, dass man einfach mehr experimentiert, sei dahingestellt – ist für die Außenwahrnehmung aber auch unerheblich. Es ist jedenfalls bezeichnend, dass es mittlerweile mehrere Webseiten gibt, die sich der Protokollierung eingestellter Google-Services widmen.

In Zahlen

Eine davon ist das Google Cemetery, und diese liefert reichlich unerfreuliche Zahlen. Seit Anfang 2019 wurden bereits neun Google-Dienste eingestellt. Über die Jahre soll Google laut den Zahlen der Seite 151 Projekte abgesägt haben, deren durchschnittliche Lebenszeit wird mit gerade einmal vier Jahren angegeben. Und dieser Wert scheint auch nicht besser zu werden, so schaffte es Allo etwa nicht einmal auf drei Jahre.

Spurensuche

Bleibt natürlich eine Frage: Wie kommt es dazu? Auch ohne sonderliches Insiderwissen lässt sich dabei ein Ablauf beobachten, der sich immer aufs Neue wiederholt: Google stellt einen neuen Dienst in einem eher halbfertigen Zustand vor. Dies führt zu Kritik, worauf das Versprechen Googles folgt, all die fehlenden Dinge schon bald nachzureichen. Was dann passiert, ist allerdings: nichts. Die Entwicklung scheint komplett einzuschlafen, im besten Fall folgen noch ein paar kleinere Updates, nur um dann unweigerlich zur Einstellung zu führen.

Beispiele hierfür gibt es zuhauf. So wurde etwa im Vorjahr nach Jahren der Untätigkeit eine neue Version von Google Tasks aus dem Boden gestampft, die mit dem Fehlen zentraler Features verblüffte – und doch von Google groß beworben wurde. Immerhin soll es als Kompagnon von Gmail eine wichtige Rolle im App-Angebot der Firma einnehmen. Zuletzt gab es zwar kleinere Verbesserungen, aber die von Inbox gewohnte Reminder-Integration sucht man bis heute vergeblich. Ähnlich sieht es bei Google Podcasts oder Google Fit aus, wo der Hersteller jeweils schon vor Monaten ambitionierte Pläne kommuniziert hat, aus denen bis dato nichts geworden ist.

Youtube Music?

Am verblüffendsten ist die Inaktivität aber rund um Youtube Music. Immerhin sollte man meinen, dass das Aufziehen eines Musikstreamingdienstes einen nicht trivialen Aufwand darstellt. Zudem gibt es ein direktes kommerzielles Interesse. Insofern würde es auch Sinn ergeben, die zugehörigen Apps flott weiterzuentwickeln. Umso überraschender war dann der Zustand, in dem die Youtube-Music-App im Vorjahr vorgestellt wurde, fehlten hier doch zentrale Features im Vergleich zum Vorgänger Google Play Music. Noch verblüffender ist aber, dass sich seitdem kaum etwas getan hat. Zuletzt ist die Möglichkeit hinzugekommen, lokale Dateien abzuspielen – für ein Jahr Entwicklungszeit ist das allerdings reichlich wenig.

Interna

Dass hier etwas falsch läuft, ist also auch ohne internes Wissen offensichtlich, doch glücklicherweise gibt es auch ehemalige Google-Angestellte, die auf Diskussionsplattformen wie Hacker News recht offen darüber sprechen, woran es – ihrer Meinung nach – krankt. So wird hier von einer problematischen Firmenkultur berichtet, die vollständig auf Bonuszahlungen und Beförderungen ausgerichtet ist. Und diese Ziele lassen sich nur mit sehr spezifischen Aufgaben erreichen. Allen voran legt Google offenbar großen Wert auf Produkt-Launches, was auch erklärt, warum manche App unfertig veröffentlicht wird. Vor allem aber gibt es in diesem Modell mit Fehlerbereinigungen und kontinuierlichen Verbesserungen wenig zu holen – während das Versagen eines Projekts keinerlei negative Auswirkungen hat.

Dies führt den Berichten zufolge dazu, dass sich viele Entwickler recht rasch zu anderen Projekten versetzen lassen, wenn das aktuelle Unterfangen nicht sofort zum Erfolg wird. Es macht also nicht nur von außen den Eindruck, dass manche Google-Projekte kurz nach ihrem Launch schon wieder tot sind – sie sind es de facto auch. Oft sei es dann noch so, dass einzelne Entwickler das Projekt nebenbei aus persönlichem Interesse weiterpflegen, aber das passiere oft in der von Google freigegebenen 20-Prozent-Zeit – wodurch das Ganze auch ein Ablaufdatum habe. Zudem führe dieser Ansatz dazu, dass es zahlreiche Parallelentwicklungen und endlose Redesigns gebe – weil beides im Google-System belohnt wird.

Realität

Die Konsequenz: Wirklich sicher sind bei Google eigentlich nur jene Services, die eine kritische Größe erreicht haben. Mit der Arbeit an Google Maps, Youtube oder Gmail kann man auch so im Unternehmen aufsteigen, wodurch die Entwickler hieran auch langfristig arbeiten können. Ausnahmen von dieser Regel gibt es natürlich, etwa wenn es ein größeres strategisches Interesse hinter einem Projekt gibt, Google also die Entwicklung gezielt forciert. Das ist etwa der Grund dafür, dass der Messenger Hangouts noch existiert, nutzten doch die Business-Tools Hangouts Chat und Hangouts Meet dieselbe Infrastruktur.

Was ist ein Experiment – und was nicht?

Die Gegenperspektive zu alldem ist natürlich, dass es besser ist, Google experimentiert mit neuen Ideen, als dies nicht zu tun. Und das hat durchaus seine Berechtigung, übersieht aber auch einen wichtigen Punkt: Google ist ziemlich schlecht darin, zu kommunizieren, was von all seinen Neuvorstellungen ein Experiment ist – und was nicht. Das führt dazu, dass sich Nutzer auf neue Dienste einlassen, um dann im Endeffekt vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Paradebeispiel hierfür ist Inbox, das einst groß als Zukunft der E-Mail beworben wurde und dafür von seinen Nutzern ein gewisses Umlernen erforderte. Da zentrale Features nie in Gmail übernommen wurden, müssen die verbliebenen User diese Umstellung nun in die andere Richtung noch einmal vornehmen – und das stärkt das Vertrauen in das Unternehmen nicht gerade. (Andreas Proschofsky, 17.4.2019)