Meint, sich an zynische "Spiegel"-Reporter anno 1993 erinnern zu können: Christoph Hein, Chronist der mentalitätstechnisch nur schwer bewältigten deutschen Wiedervereinigung.

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Hier wurde zur Einsicht freigegeben, was in den Unterlagen der DDR über Bürger wie Christoph Hein hinter Stasi-Aktendeckeln geschrieben stand.

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Christoph Hein: "Gegenlauschangriff". Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege. € 14,40/130 Seiten Suhrkamp: Berlin 2019.

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Christoph Hein kann aus seiner Prosahaut nicht heraus. Der mittlerweile 75-jährige Autor hat ein Buch voller Anekdoten herausgegeben. Gegenlauschangriff nennt sich der Band mit knapp 30 kurzen und kürzesten Erzählungen, Untertitel: "Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege". Die Prosa ist autobiografischen Ursprungs und handelt ausnahmslos vom niederdrückenden Leben in der DDR. In jeder Erzählung hält Hein, schon vor der Wende von 1989 ein genauer Kenner östlicher Gefühlskultur, den Scheinwerfer der Erinnerung auf ein winziges Partikel des eigenen Lebens. Nun hat noch kein Leser ein Buch des Autors Hein jemals aus der Hand gelegt, weil er sich den Bauch vor Lachen halten musste. Dem vor Sprödigkeit knackenden Ton dieser Prosa wird man keine Unbesonnenheit nachsagen wollen.

Die Dinge gingen auch im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat irgendwie ihren Gang. Bloß führte dieser mit hoher Verlässlichkeit kilometerweit in die Irre. Was im aktuellen Fall noch schwerer wiegt: Hein, als angesehener Dichter im strahlenden Spätherbst seines Lebens stehend, scheint sich auf die Helligkeit seiner Erinnerung nicht mehr ohne weiteres verlassen zu können. Das Gros der kleinen Chronik folgt den bei Hein üblichen Gepflogenheiten. Die kommunistischen Autoritäten, die jedem eigensinnigen Kopf das Leben unerträglich machten, nennt der Dichter heute verschmitzt "die Allgewaltigen". Dabei war er selbst 1987 lauthals gegen die DDR-Zensur aufgestanden.

Gepflogenheiten des Kalten Krieges

Anno 2019 mokiert sich Hein lieber sanft über die Gepflogenheiten des Kalten Krieges, als auch die BRD nicht davor zurückschreckte, ein "Ministerium für innerdeutsche Beziehungen" zu unterhalten. Dessen wesentlicher Daseinszweck bestand in der Verfügung einer Aktion namens "Kerzen ins Fenster". Deren Flackern sollte symbolisch auf das reale Unglück der Ostdeutschen hinweisen. Der Wettlauf der Systeme häufte auf beiden Seiten Gebirge des Schwachsinns auf.

So hätte man Heins Sottisen beruhigt als das Nebenwerk eines sonst vor Verlässlichkeit strotzenden Autors ablegen können. Das ist nicht mehr möglich. Hein scheint im Vorgang des Erinnerns die Tatsachen ein wenig aus dem Blick verloren zu haben.

Enttäuschtes Lächeln

Unter dem bei Shakespeare entlehnten Titel Dass einer lächeln kann und lächeln schildert Hein die Begegnung mit drei Spiegel-Redakteuren, die ihn irgendwann im Spätfrühling 1993 interviewt haben sollen. Zu diesem Zeitpunkt, gibt Hein an, hätte er entschieden, die Lektüre der eigenen Unterlagen in der Gauck-Behörde ("Stasi-Akte") kaum eingehender als stichprobenartig zu betreiben. Einer der Journalisten soll den Interviewten mit folgenden Worten begrüßt haben: "Herr Hein, wir haben leider nichts gegen Sie in der Hand." Sein Lächeln habe enttäuscht gewirkt.

Wie Mückenschwärme setzten sich in den frühen 1990ern die Westjournalisten auf die Akten von DDR-Prominenten. Jeder nachgewiesene Kontakt mit Stasi-Schnüfflern konnte in einen Fall von Verrat umgedeutet werden. Hein glaubt, der Spiegel-Interviewer hätte sich mit seiner Feststellung als "Schurke" entlarvt. Ihm, Hein, hätte etwas angehängt werden sollen. Doch der Spiegel meint, so, wie Hein schreibt, könne es nicht gewesen sein.

Vorschlag zur Güte

Tatsächlich scheint besagtes Interview nicht 1993 stattgefunden zu haben, sondern allenfalls 1998. Das räumt mittlerweile Hein selbst ein. Seine Festlegung, als Schurke müsse Feuilletonist Volker Hage aufgetreten sein, weist dieser verblüfft von sich. Vielleicht, schrieb Hage unlängst in einem offenen Brief in der Zeit, "sollten wir das alles nicht ganz so ernst nehmen". Sein Briefchen wirkt wie ein Vorschlag zur Güte.

Und so belegt der unscheinbare Band Gegenlauschangriff die ganze Malaise deutsch-deutscher "Erinnerungskultur". Die Befreiung vom Joch der SED dürfte viele Ostdeutsche ein weiteres Mal gekränkt haben. Das Bewusstsein, wieder auf der Verliererseite zu stehen, setzt offenbar dem Erinnerungsvermögen zu. "Ich habe diesen Journalisten nie wiedergesehen", schreibt Hein. Selbst das scheint nicht zu stimmen, schenkt man Hage und dem Spiegel-Archiv Glauben. Übrig bleiben Proben einer fantasiegesättigten Prosa. Auf deren Strom treiben Wirklichkeitssplitter. Auf dem Gewissen hat sie alle die Diktatur. (Ronald Pohl, 10.4.2019)