#MeToo hat eine Blase platzen lassen. Doch was hat der Hashtag wirklich verändert? Vier Journalistinnen von vier Kontinenten erzählen ihre ganz persönliche Geschichte und die Geschichte ihres Landes.

Muriel Rukeyser hatte recht. Die amerikanische Poetin hat in einem Gedicht im Jahr 1960 die Frage gestellt, was passieren würde, wenn eine Frau die Wahrheit über ihr Leben erzählt. "The world would split open." – Die Welt würde aufplatzen, schrieb sie. Genau das hat sie getan.

Die Welt hat sich seit dem Tweet von Alyssa Milano 2017 verändert. Milano hat darin Frauen dazu aufgerufen, den Hashtag #MeToo zu posten, wenn sie sexuell belästigt oder angegriffen wurden. Innerhalb weniger Stunden wurde das Ausmaß ihres Aufrufs deutlich. Auf Facebook wurden über zwölf Millionen Posts innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden abgesetzt. Auf der ganzen Welt machten Frauen ihre Erfahrungen öffentlich und nahmen an der Kampagne teil.

Doch die Bewegung könnte nicht mannigfaltiger sein. Die Probleme, gegen die Frauen auf der ganzen Welt kämpfen, sind ebenso vielfältig wie auch sehr persönlich. Vier Journalistinnen von vier Kontinenten erzählten uns im Rahmen des Journalismusfestivals in Perugia, wie sich die Bewegung in ihrer Heimat auswirkt, was sich seit #MeToo für sie persönlich verändert hat und was getan werden muss.

Joyce Barnathan, Präsidentin des International Center for Journalists, USA.
Foto: Anja Maria Dax

Joyce Barnathan: "Wir müssen aufhören, das Abnormale zu akzeptieren!"

Wenn Joyce Barnathan, Präsidentin des International Center for Journalists, USA, über sexuelle Belästigung, Gewalt gegen Frauen oder Gleichberechtigung spricht, dann erzählt sie die Geschichte einer Veränderung. Barnathan hat ihre journalistische Karriere in den 80ern in den Staaten begonnen. Eine Zeit, in der Frauen gefällig sein mussten, um überhaupt als Co-Autor eines Artikels aufzuscheinen. Eine Zeit, in der Flirten als Teil des Jobs galt und verletzte Egos von männlichen Vorgesetzten die Karriere einer Frau erheblich beeinflussen konnten.

Sprünge in der gläsernen Decke

"Freitagabends wurde Soft Porno in der Redaktion geschaut. Habe ich mich beschwert? Ich dachte, es wäre normal!", sagt Barnathan. Als wäre auch das ein Fakt, den man hinnehmen müsste. Doch nach einer Reihe von Klagen in den 70ern gegen Männer, die Frauen sexuell belästigt hatten, änderte sich das Klima in der Branche. Was bis dahin als "normal" gegolten hatte, begann sich langsam zu ändern, wurde nicht mehr akzeptiert. Barnathan beschreibt diesen Prozess als gläserne Decke, die langsam Sprünge bekam. Doch auch wenn die Sprünge durch #MeToo heute größer geworden sind, sind es immer noch Sprünge, kein Durchbruch. Ein Großteil der Führungspositionen in Medienunternehmen ist schließlich noch von Männern besetzt, sagt sie. "Wir müssen aufhören, das Abnormale als normal zu akzeptieren!", betont sie immer wieder. Der Prozess darf kein Ende haben.

Joyce Barnathan macht heute vieles anders. Auch wenn sexuelle Übergriffe in ihrem Umfeld nicht aufgehört haben, hat sich doch der Umgang damit geändert. Vor einigen Jahren veranstaltete sie ein großes Abendessen. Ein Mann belästigte einige junge Kolleginnen und legte ungefragt seine Arme um sie. Barnathan rief daraufhin bei der Organisation an, für die der Mann arbeitete, und sagte, dass sie diesen Mann nie wieder zu einem ihrer Events schicken sollen. "Ich weiß nicht, ob ich das früher gemacht hätte. Aber jetzt sage ich: Ich will ihn nicht mehr sehen!"

Gul Bukhari, "The Print", Pakistan.
Foto: Selina Holesinsky

Gul Bukhari: "Ich muss mich nicht um alle kümmern"

Gul Bukhari ("The Print", Pakistan) sieht die Sache anders. Für sie persönlich hat #MeToo nichts verändert. Sie ist langjährige Journalistin und Menschenrechtsaktivistin aus Pakistan und berichtet für Al Jazeera, BBC und aktuell für "The Print". Weltweit wurde Bukhari jedoch erst im Sommer 2018 bekannt. Auf offener Straße wurde sie von mehreren Männern geknebelt, ihre Augen wurden verbunden und sie in einem Auto entführt. Mehrere Stunden wusste niemand, wo sie war. In diesen Stunden ging ihre Geschichte um die Welt.

#MeToo ist ein Menschenrechtsthema geworden

Pakistan ist nicht nur ein Land mit enormem Bevölkerungswachstum, sondern auch ein Land, das im Ranking für Gleichberechtigung immer wieder die letzten Ränge belegt. #MeToo hat Pakistan in seiner Struktur noch nicht stark verändert, meint Bukhari. Die Bewegung hat jedoch bewirkt, dass Fälle von Belästigung oder Gewalt gegen Frauen plötzlich verstärkt im Gespräch sind.

Vor zehn Jahren haben sich viele Frauen in sozialen Medien entweder als Mann ausgegeben oder sind komplett ausgestiegen. Sie wollten die Nachrichten und Posts nicht ertragen, die sie bekamen, erzählt Bukhari. Heute ist es anders. Sie beobachtet, dass vor allem auch Männer sich vermehrt öffentlich für Frauen starkmachen. Das Bewusstsein für dieses Thema ist stark gestiegen. "Es ist jetzt mehr ein Menschenrechtsthema geworden. Es geht nicht mehr nur Frauen was an", sagt sie.

Bukhari zieht ihre Stärke aus ihrer Familie und Freunden. Es ist wichtig, wie man aufwächst und erzogen wird, sagt sie. Da hat #MeToo keine große Rolle gespielt. Ihr enges Umfeld gibt ihr den Zuspruch, den sie braucht. Sie konzentriert sich bewusst auf Menschen, die ihr Kraft geben. "Ich muss mich nicht um alle kümmern."

Mijal Iastrebner ist Mitbegründerin und Managing Director von Sembra Media.
Foto: Anja Dax

Mijal Iastrebner: "#NiUnaMenos hat mich komplett verändert"

Wenn Mijal Iastrebner beginnt, über #MeToo zu sprechen, dann erzählt sie eine blutige Geschichte. Die Geschichte der Frauen Argentiniens. Eines der größten Probleme in Argentinien ist nämlich der Femizid – der Mord an Frauen. Iastrebnerist Mitbegründerin und Managing Director von Sembra Media.

2015 wurde in Argentinien alle 18 Stunden eine Frau ermordet. Die Berichterstattung von Medien darüber war nachlässig. Selten wurde berichtet, dass eine Frau von einem oder gar ihrem Mann umgebracht wurde. Vielen Fällen wurde nicht nachgegangen, wenn das Opfer eine Frau war. Das war der Zeitpunkt, in dem #NiUnaMenos (nicht eine (Frau) weniger) ins Leben gerufen wurde. Vor allem Journalistinnen wurden aktiv. Sie waren müde geworden, jeden Tag über einen Frauenmord zu berichten, dessen Untersuchung im Sand verlief. Vier- bis fünfmal jährlich organisieren sie Demonstrationen für Frauenrechte und bemühen sich um Austausch und Agendasetting. Im Moment kämpfen sie verstärkt für die Legalisierung der Abtreibung.

Iastrebner hat gelernt, dass sie kein Mann werden muss

Durch #NiUnaMenos waren Medien in Argentinien besser auf #MeToo vorbereitet, meint Mijal Iastrebner. Durch #NiUnaMenos hat sie sich stark verändert, sagt Iastrebner. Sie hat gelernt, dass sie als Frau in einer Führungsposition kein "Mann werden müsse", um zu bestehen. Der Austausch in der Bewegung hat ihr gezeigt, wie wichtig Frauennetzwerke sind. Über Gleichberechtigung und Probleme spricht sie mittlerweile nicht nur mit ihren Freundinnen, sondern auch mit Großeltern und Männern in ihrem Umfeld. Alle haben einen anderen Blickwinkel darauf, sagt sie. "Es ist eine ständige Debatte!"

Journalistin und Autorin Donia Kamal.
Foto: Selina Holesinsky

Donia Kamal: "Ich fühle mich nicht wohl. Ich muss gehen"

Die Journalistin und Autorin Donia Kamal kommt aus Ägypten. Ein Land, in dem 2013 mehr als 99 Prozent aller Frauen sexuell belästigt wurden, glaubt man einer Studie der Vereinten Nationen. Auch Kamal wird in ihrem Arbeitsumfeld belästigt. Nicht einmal, zweimal – sie erzählt von unzähligen Fällen, in denen einfach weggeschaut wurde.

Zum Beispiel von einem männlichen Kollegen, der Fotos von Frauen gemacht hat. Eine Kollegin warnte sie deswegen, dass sie keine knielangen Röcke mehr tragen sollte. Es war Hochsommer. Doch Kamal wollte sich nicht unterordnen. Schließlich machte er bei einem Mittagessen unter dem Tisch auch Fotos von ihr. Sie bemerkte es in dem Moment, dich sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hätte sein Handy nehmen können. Doch sie hatte Angst, er könne sie beschuldigen oder gewalttätig werden. Sie fühlte sich hilflos.

Ein Foto kann sexuelle Belästigung sein

"Ich sage, wir sollten nicht schweigen. Aber wir alle schweigen." Kamal ist eine der ersten Stimmen im arabischen Raum, die gegen sexuelle Belästigung mobilisierten. Sie veröffentlichte einen Artikel in der "Vice Arabia". Ihre Freundinnen und Kolleginnen konnten zuerst nicht glauben, was sie getan hatte. "Warum hast du das nicht schon früher gemacht?" Doch sie fühlte sich davor nie sicher genug. Erst durch die Rechtsberatung der Redaktion, die alles dafür tat, um sie zu schützen, konnte sie veröffentlichen.

Mittlerweile hat sie klare Grenzen gezogen, wann für sie sexuelle Belästigung anfängt. Dazu zählen für sie vor allem Fotos, Berührungen oder auch unangenehme Fragen zu ihrem Sexleben. Man fühlt sich oft zu Unrecht schuldig in diesen Situationen, weiß nicht, was man sagen oder tun soll, meint sie. Für solche Fälle hat sie sich eine Strategie zurechtgelegt, wie sie damit umgehen möchte. "Ich fühle mich nicht wohl. Ich muss gehen", sagt sie dann. Das tut sie dann auch ausnahmslos.

May Elshamy: Kein Visum

May Elshamy, ebenfalls Journalistin, konnte nicht zum Festival erscheinen. Sie ist eine der ersten Frauen in Ägypten, die einen männlichen Vorgesetzten wegen sexueller Belästigung angeklagt haben. Nach der Anklage verlor sie nicht nur ihren Job, sondern war auch – laut Berichten der "Washington Post" – einer Schmutzkampagne ausgesetzt, die ihr die Mitgliedschaft in der Muslimbrüderschaft vorwarf. Sie erhielt kein Visum für die Ausreise. (Anja Maria Dax, Selina Holešinsky, 10.4.2019)