Medien sind zu einer sorgsamen Berichterstattung über Suizide angehalten. Das führt in Qualitätsmedien dazu, möglichst wenig darüber zu berichten, so der Journalist Golli Marboe. Dabei sei es wichtig, über die Ursachen zu reden. Diese Debatte fordert er in einem sehr persönlichen Gastkommentar ein.

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Es klingelt an der Tür unserer Wohnung im vierten Stock. "Da ist was mit dem Tobias!" "Ja, er ist nebenan im Wohnzimmer. Wir richten gerade das Gästezimmer für ihn her." "Nein, es ist was mit ihm unten auf der Straße!" Seit diesem Nachmittag des 26. Dezember 2018 ist unser Leben nicht mehr, wie es war.

In einem der ersten Kondolenzschreiben zum Selbstmord unseres Sohnes kündigt uns eine Freundin an: "Ihr werdet sehen: Viele Menschen, die Ähnliches erlebt haben, werden sich bei euch melden." Und es ist tatsächlich so, als würde man in eine Geheimloge aufgenommen werden. Man hält nicht für möglich, wie viele Menschen ein ähnliches Schicksal ereilt und wie viele ein derartiges Trauma – soweit irgend möglich – zu verarbeiten haben.

Offener sprechen

In unserem gesellschaftlichen Diskurs findet mittlerweile zwar ein durchaus intensiver Dialog zu Depression, Burnout und den Folgen mangelnder Konzentrationsfähigkeit am Arbeitsplatz statt. Aber ein Diskurs über jene Fälle, in denen es zu psychotischen Schüben, und leider viel öfter, als man denkt, auch zu letalen Entscheidungen kommt, ist immer noch ein großes Tabu. Auch jene, die sich aufgrund von Verfolgungsangst oder tiefgreifenden Depressionen mit Medikamenten helfen, werden immer noch schief angesehen. Also nimmt man die Medikamente ganz verschämt und möchte auch nicht, dass andere davon wissen.

Das ist falsch. Wir müssen offener darüber sprechen. In den eigenen Familien und mit Freunden genauso wie in der Öffentlichkeit und in den Medien.

Suche nach Ursachen

Laut einem Bericht des STANDARD stellen Suizide in der Altersgruppe von 15 bis 29 Jahren die zweithäufigste Todesursache dar. Damit müssen wir uns doch auseinandersetzen! Dazu braucht es doch einen gesellschaftlichen Diskurs! Was treibt gerade junge Menschen in den Tod? Was lässt sie derartig einsam werden, dass sie keine Hoffnung für ihre eigene Existenz mehr haben? Das geht uns doch alle an!

Nun folgen wir in Qualitätsmedien dem ungeschriebenen Gesetz: Über einen "Freitod" soll wegen des sogenannten Werther-Effekts möglichst wenig berichtet werden. Man will keine Nachahmung provozieren.

Wenn ich über einen Diskurs zum oben genannten Thema spreche, dann meine ich natürlich keine boulevardeske und indiskrete Beschreibung eines Selbstmordes, sondern die Suche nach Ursachen!

Dann wünsche ich mir einen Diskurs über den Stolz in Familien wie meiner. Man geniert sich, seine nahen Menschen um Hilfe zu bitten.

Dann wünsche ich mir mehr Verständnis und Wissen über Symptome, an denen man möglicherweise bevorstehende psychotische Schübe besser erkennen könnte. Hätte sich unser Tobias das Bein gebrochen, dann hätte ich ihn umgehend ins Unfallkrankenhaus gebracht. Auch wenn er dagegen protestiert hätte. Ein Beinbruch muss von einem Facharzt professionell behandelt werden. Aber wenn ein Mann von 29 Jahren traurig ist, sich ungewöhnlich benimmt, dann denkt man, der ist depressiv, der wird sich schon wieder fangen. Der Weg zu einem Psychologen oder Psychiater erinnert immer noch an die Einschränkung persönlicher Freiheit.

Dann wünsche ich mir einen Diskurs über das Klima in unserem Land, in dem ein politisch und kulturell engagierter junger Mann keine Folie zu haben scheint, in der er sich wiederfindet – sowohl inhaltlich als auch finanziell, um eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln. Das Prekariat, zu dem man im Österreich des Jahres 2019 verurteilt scheint, wenn man sich den immateriellen Dingen, den sinnlichen Beschreibungen der Welt mit Liedern, Bildern, Videos oder Texten widmet. Tobias war Künstler.

Darüber wünsche ich mir einen offenen und lebendigen Dialog auch in unseren Medien. Es geht nicht um Aufgeregtheit, es geht nicht um indiskrete Fotos, es geht nicht um Sentimentalität in sozialen Medien. Es geht darum, Fragen zu stellen und Themen zu bearbeiten, auf die es keine Antworten gibt. Denn die Beschäftigung mit solchen Dilemmata verringert die eigenen Ängste, weil man hoffentlich bemerkt, nicht alleine und einsam zu sein.

Das ist natürlich nicht leistungs- oder konsumorientiert und entspricht daher auch nicht gerade dem kommunizierten Zeitgeist. Aber es wäre einfach menschlich. Genauso wie die Entscheidung unseres Sohnes.

Echte Empathie

Wir sollten einfach mehr darüber sprechen und dem gesellschaftlichen Tabu des verschämten Wegschauens mit echter Empathie begegnen. Schon damit Betroffene wie ich auf die unschuldige Smalltalk-Frage "Wie geht es dir?" auch so antworten könnten, wie es mir eben auf der Seele brennt: Denn ich möchte von unserem Unglück erzählen, von unserer Sprachlosigkeit, von unserer Traurigkeit, von unserem Appell, hinzuhören und genau hinzusehen, und von unserer Sehnsucht nach dem Unerfüllbaren.

Reden wir bitte über die Ursachen von Suiziden – auch in den Medien! (Golli Marboe, 10.4.2019)