Erdoğans System zeige Wirkung: Für Ece Temelkuran ist er der Protopopulist.

Foto: Mario Poje

"Schaffen Sie das Schamgefühl ab. Im postfaktischen Zeitalter ist unmoralisches Verhalten gefragt." Das ist nur einer von sieben "Ratschlägen", die die türkische Autorin Ece Temelkuran in Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist (Hoffmann und Campe) gibt. Der Erdoğan-Kritikerin geht es in ihrem Buch um ein Frühwarnsystem gegen Populismus. Als wachsame Bürgerin, die den Aufstieg eines autoritären Führers miterlebt hat, will sie jene schädlichen Strategien aufzeigen, die allen Populisten gemeinsam sind. Wir trafen Temelkuran, die bei ihrer Lesereise auch in Wien Station machte, zum Gespräch.

STANDARD: Erdoğan hat bei der Kommunalwahl eine Schlappe erlebt. Sehen Sie das als Zeichen, dass sein Stern am Sinken ist?

Temelkuran: Es ist nicht das erste Zeichen, aber der Unmut tritt nun offen zutage. Allerdings muss man vorsichtig sein: Die Briten würden sagen, man hat den Tiger am Schwanz zu fassen bekommen. Darauf reagieren Tiger bekanntlich nicht sehr freundlich. Erdoğan hat bereits angekündigt, dass er die Stimmen neu auszählen lassen will.

STANDARD: Erdoğan wäre nicht der Erste, der demokratische Wahlen anficht.

Temelkuran: In den USA sprechen manche bereits davon, dass Trump nicht einfach so gehen werde, falls er verliere. Er werde das Ergebnis nicht anerkennen. Ich habe ihnen gesagt: "Schaut auf die Türkei!" Dort sieht man die letzten Szenen eines Films, der in den USA und Europa erst begonnen hat.

STANDARD: Bleiben wir also in der Türkei. Da wurde in den Metropolen und an der Küste die Opposition gewählt. Waren dafür vor allem ökonomische Fragen entscheidend?

Temelkuran: Selbst jene, die für die AKP gewählt haben, fühlen mittlerweile die wirtschaftliche Härte. Regime wie das von Erdoğan halten sich durch finanzielle Anlockungen, sie verteilen Geschenke, spannen loyale Netzwerke. Doch wenn das Geld versickert, und das passiert gerade in der Türkei, dann schwinden die Seilschaften.

STANDARD: Es stehen nach wie vor viele Journalisten – darunter der Österreicher Max Zirngast – vor Gericht. Das scheint in westlichen Ländern schwer vorstellbar.

Temelkuran: Man blickt auf die Türkei gerne wie auf ein verrücktes Land. Damit macht man es sich jedoch zu leicht: Eine ähnliche Entwicklung findet sich auch in Europa. Es beginnt ja nicht mit Inhaftierungen, sondern damit, dass Leute über Populisten sagen, die seien ja gar nicht schlimm – der erste Schritt der Normalisierung.

STANDARD: In Ihrem Buch formulieren Sie die These, dass Erdoğan das Modell für andere Populisten sei. Dass diese in der EU mehrheitlich antimuslimisch denken, ist kein Widerspruch?

Temelkuran: Die religiösen Aspekte sind nicht wesentlich für den Rechtspopulismus. Das dient nur als Werkzeug. Wenn es darum geht, an die Macht zu kommen, funktioniert jede Religion gut. Das Christentum genauso wie der Islam.

STANDARD: Religion ist nur Verkleidung, ähnlich wie es kulturelle Identitäten sind?

Temelkuran: Ganz genau, sie ist nur eine Maske für konservative Werte, für die Identität des Beharrens – "so wie wir leben". Es ist nur der Leim, der das Wir zusammenhält.

STANDARD: Sie schreiben, der Populismus profitiere von einem moralischen Schaden. Wie meinen Sie das?

Temelkuran: Jedes Land hat seine eigene Illusion von Überlegenheit. Doch plötzlich sind zuerst sprachlich, dann politisch Dinge möglich, die man nicht für möglich hielt, weil der moralische Kompass verändert wurde. Zu viele behandeln den Populismus wie eine Naturkatastrophe, dabei ist er ohne die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte nicht denkbar – die Infantilisierung der Sprache, die Vernachlässigung der sozialen Frage, das Vergessen darauf, dass man ein politisches Subjekt ist.

STANDARD: Wie beurteilen Sie in diesem Kontext die Rolle sozialer Medien?

Temelkuran: Wir wissen noch nicht, was soziale Medien wirklich sind – und was sie anrichten. Auf jeden Fall beeinflussen sie Demokratien, ohne dass diese darauf reagieren können. Es ist kein Austausch von rationalen Subjekten mehr. Umgekehrt gibt es diese sterilen traditionellen Medien, in denen alles fein ausbalanciert sein muss. Ich wurde nicht Journalistin, um dieses leere Auge zu werden, das alles wiedergibt.

STANDARD: Sehen Sie eine politische Alternative jenseits des anderen (Neo-)Liberalismus, wie ihn Macron vertritt?

Temelkuran: Meine Generation schuf Tahir, Gezi, die Bewegungen in Spanien und Griechenland – man suchte nach einer politischen Bewegung ohne Hierarchie. Nun gibt es die Klimaproteste. Ich glaube, diese Generation wird die geeigneten politischen Mittel finden. Sie mögen wie nette Jugendliche erscheinen, aber da soll man sich nicht täuschen. Das ist kein vorübergehendes Phänomen. Je weiter sie in die Politik vordringen, desto mehr wird ihnen bewusst werden, dass sie die Gier im Herzen des Neoliberalismus herausfordern. Und wenn das passiert, könnte es ziemlich brutal werden.
(Dominik Kamalzadeh, 11.4.2019)