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So einig, wie die EU-27 gerne tun, sind sie nicht.

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Die Einigung der Staats- und Regierungschefs auf eine neuerliche Verschiebung des Termins des Austritts von Großbritannien aus der EU verschafft allen Beteiligten deutlich mehr Luft. Den Weg zu einer Lösung des Problems, oder gar eine inhaltliche Veränderung oder Verbesserung der Lage bringt sie freilich nicht. Es bleibt völlig offen, warum Premierministerin Theresa May jetzt bessere Chancen haben soll als bisher, für den Brexit im Parlament eine Mehrheit zu finden.

Die EU kann ihr dabei nicht helfen. Es liegt ganz allein an der britischen Politik, den beim Referendum ausgedrückten Wunsch der Bevölkerung auf EU-Austritt umzusetzen. Oder auch nicht. Mit sechs Monaten bis 31. Oktober 2019 fiel der Aufschub bei diesem Sondergipfel in der Nacht auf Donnerstag diesmal deutlich länger aus als zuletzt am 27. März.

Damals hatte man sich auf nur drei Wochen geeinigt – viel zu wenig für May und das total zerrissene Unterhaus in London. Aber damals wie heute gilt: Den EU-27 ging es vor allem darum, auf jeden Fall die ökonomische Katastrophe eines ungeordneten EU-Austritts zu verhindern, den Chaosbrexit. Darin sind sich ausnahmsweise alle einig, nur die pokerfreudigen Hardliner bei den britischen Brexiteers setzen auf harten Bruch mit der EU.

Macrons Eigeninteressen

Die EU-Staats- und Regierungschefs sind da deutlich vernünftiger. Ratspräsident Donald Tusk und die Mehrheit der Staaten wollte sogar ein Jahr Bedenkzeit beschließen. Sechs Monate waren ein typischer EU-Kompromiss: die Hälfte, man traf sich in der Mitte.

Vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron legte sich quer. Er verfolgt (wie alle anderen auch) starke Eigeninteressen: Paris will in der EU eine Führungsrolle ausbauen, die Integration vorantreiben, Deutschland antreiben. Die Briten als traditionelle Freihändler stören dabei, sollen rasch raus, bei Zukunftsentscheidungen der Union nicht mehr mitreden. Auch wenn das formal gar nicht so leicht geht (die Briten sind ja weiter Mitglied bis auf weiteres) wollte Macron Fakten schaffen. Deutschland als dritte EU-Großmacht stellte sich traditionell als ausgleichender Dritter dazwischen.

So wurde ein Bruch vermieden, was nicht wenig ist. Aber die EU-Spitzen haben wieder nur die äußeren Umstände für einen Brexit (oder auch dessen Absage ("Revoke") durch London neu definiert. Sie haben bestehende rote Linien bekräftigt, etwa in Sachen offene Grenzen in Irland. Neue Ideen, wie man gemeinsam weiterkommen könnte oder – noch wichtiger – auf welcher Basis man auch in Zukunft ein enges Verhältnis pflegen möchte, sind nicht aufgetaucht, obwohl die Regierungschefs sieben Stunden debattiert haben.

May beharrt auf Brexit-Möglichkeit vor 30. Juni

In der einstimmig verabschiedeten Schlusserklärung wurde auch deutlicher als je zuvor betont, dass der auf dem Tisch liegende "Austrittsvertrag" – das Scheidungsabkommen von November – auf gar keinen Fall wieder aufgemacht wird. Diesbezüglich sollte man sich in Großbritannien keinerlei Illusionen mehr machen. Es wird Zeit für eine Entscheidung, ohne großes Nachverhandeln.

Das betonte auch Theresa May unverdrossen in ihrer nächtlichen Pressekonferenz. Sie beharrt darauf, dass ein Brexit noch rechtzeitig vor dem 30. Juni möglich wäre, also vor der Neukonstituierung des EU-Parlaments am 2. Juli, sofern das Unterhaus ihren Brexitdeal doch noch rechtzeitig vor den EU-Wahlen Ende Mai beschlösse. Sie kündigte an, dass sie das probieren will. Gelänge es ihr, wäre alles paletti, und die Verlängerung des Brexit bis Oktober obsolet. Die Briten müssten die EU-Wahl dann gar nicht mehr machen.

Das glaubt aber bei den 27 EU-Partnern niemand. Sie haben daher Zusatzregeln formuliert, wie dieser Briten sich im laufenden Jahr Wohlverhalten müssten, um den Fortgang der Union nicht zu behindern. Das sind schöne Worte. Verbindlich ist das nicht.

Es zeigen sich erste Risse

Vielmehr bleibt die Drohung im Raum, dass UK im Oktober noch immer nicht den Brexit vollzogen haben wird und es wieder einen Brexitsondergipfel geben wird, der entscheiden müsste, ob man die Briten über die Klippe springen lässt, oder ob es eine weitere, die dritte Brexitverlängerung geben wird müssen, um das No-Deal-Szenario zu vermeiden. Wie das ausgeht, ist völlig offen.

Es hat sich aber erstmals gezeigt, dass man dieses Spiel nicht ewig durchhalten wird. Bei den EU-27 zeigen sich erste Risse, Uneinigkeit. Frankreich, Österreich, Schweden drängen die Briten zum Abgang, die Deutschen und Tusk bremsen eher, weil sie bei einem Abgang der Briten eine politische Gewichtsverlagerung Richtung Südeuropa befürchten. So einig, wie die EU-27 gerne tun, sind sie nicht. Die Konflikte werden umso schärfer ausbrechen, wenn Großbritannien nicht mehr EU-Mitglied sein wird. (Thomas Mayer, 11.4.2019)