Die Euphorie der algerischen Bevölkerung nach dem Rücktritt des greisen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika hat die französische Regierung ganz offensichtlich nicht angesteckt. Außenminister Jean-Yves Le Drian spricht sich sehr lapidar für einen "demokratischen Übergang in Ruhe und Verantwortung" aus. Stabilität kommt für Paris vor Veränderung in dem riesigen Wüstenstaat südlich des Mittelmeeres, dem größten Land Afrikas.

Algerien ist für die ehemalige Kolonialmacht ein Schlüsselstaat Westafrikas: Dort führen französische Soldaten seit sechs Jahren Krieg gegen Jihadisten. Letztere setzen sich häufig von Mali über die offene Sahara-Grenze nach Algerien ab. Dazu kommt das abschreckende Beispiel Libyens: Welches Chaos ein Regimewechsel verursachen kann, hat dort der Sturz Muammar al-Gaddafis vor Augen geführt.

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Demonstration in Algier.
Foto: AP Photo/Mosa'ab Elshamy

Nach Bouteflikas Demission warnt die Rechtsextremistin Marine Le Pen bereits vor einer neuen "Migrationswelle" nach Frankreich, wo heute über drei Millionen Algerier und Algerischstämmige leben. Der Chef der konservativen Republikaner, Laurent Wauquiez, äußert ebenfalls "große Sorge", dass die Islamisten das Machtvakuum in Algerien ausnützen könnten. 1991 ist ihre Partei FIS nur durch die Armee an einem Wahlsieg gehindert worden. Frankreichs damaliger Präsident François Mitterrand billigte den Militäreinsatz implizit. Im darauffolgenden "schwarzen Jahrzehnt" lieferten sich die Armee und die islamistischen GIA-Milizen einen blutigen Kleinkrieg mit über 100.000 Todesopfern. Bouteflika wurde 1999 auch deshalb gewählt, weil er ein Ende des Bürgerkriegs und eine nationale Versöhnung versprach.

Hetze gegen Demonstranten

Die FIS-Führer von damals sind noch am Leben, wenn auch zum Teil im Exil – Abassi Madani etwa in Katar. Hoffnungen auf eine politische Rückkehr können sich die Männer mit den weißen Bärten kaum mehr machen: Bei den Großdemonstrationen in Algier und anderen Städten wurden ihre Anhänger meist aus den Umzügen verjagt. Die algerische Jugend will mit diesen fanatischen Unruhestiftern, die ihr Land in einen zermürbenden Krieg gestürzt haben, nichts mehr zu tun haben. Allgemein reagiert sie heute allergisch auf jeden Versuch von Außenstehenden, ihre Bewegung politisch zu vereinnahmen.

Der einflussreiche salafistische Prediger Abdelfattah Hamadache schimpft deshalb, die Demos seien von westlichen, genauer gesagt französischen "Agentenratten" unterwandert. Aus seinem türkischen Exil fällt Wajdi Ghoneim, einer der maßgeblichsten Wortführer der Muslimbruderschaft, seinerseits über die algerischen Demonstranten her. Sie würden sich bei ihren Freitagsdemos besser für die Einführung der Scharia (der islamischen Rechtsprechung) als für die Demokratie einsetzen, polterte er.

Das macht die Pariser Medien hellhörig. "Le Figaro" zitierte einen algerischen Regimevertreter mit den Worten: "Nur weil die Bilder von den Umzügen viele junge und unverhüllte Frauen zeigen, aber wenig 'Bärtige', heißt das noch nicht, dass sich keine Islamisten daruntergemischt hätten. Sie warten nur auf die beste Welle, um auf der Bewegung mitzusurfen."

"Allergrößte Aufmerksamkeit"

Präsident Emmanuel Macron ließ am Mittwoch verlauten, er verfolge die Lage in Algerien "mit der allergrößten Aufmerksamkeit". Das trifft zweifellos zu; schließlich bezieht sein Land von dort fast zehn Prozent seiner Öl- und Gasimporte. Zudem will er einen Anstieg der algerischen Visumanträge wie in den Neunzigerjahren vermeiden.

Über den Rücktritt Bouteflikas berichteten einzelne französische Fernsehsender mit stundenlangen Livesendungen. Die Diskussionsleiter kühlten die Freude der algerischen Gäste immer wieder mit der Frage ab, ob in Algerien nun die Rückkehr der Islamisten drohe. Der algerische Starschriftsteller Yasmina Khadra gab Sturmentwarnung: "Diese Integristen sind erledigt, seitdem sie dem Land so viel Leid zugefügt haben. Ihre Nachfolger haben nicht mehr die Kraft und den Einfluss der älteren Generation." Der weltbekannte Krimiautor fügte an, er mache sich mehr Sorgen über das Verhalten der Armee. Sie sei zwar im Volk angesehen, da sie die GIA-Islamisten besiegt habe. "Aber wir wollen in den Regierungspalästen keine Generäle. Ihr Platz ist in den Kasernen."

Die algerische Politologin Dalia Ghanem ging noch einen Schritt weiter: Sie hält nicht die Islamisten, sondern die "französische Fixierung" auf diese für "gefährlich". Denn das lenke vom eigentlichen Risiko für das algerische Volk ab: einem Regime im Griff der Armee, der Politikerclans und der Geschäftemacher. Die Franzosen, so meinte Ghanem, fielen auf die Propaganda des algerischen Regimes herein, das einmal mehr das islamistische Gespenst an die Wand male, um sich mit französischer Rückendeckung an der Macht zu halten. (Stefan Brändle aus Paris, 12.4.2019)