Existenzdrama unter der Zirkuskuppel. Franz Woyzeck (Steven Scharf; im Hintergrund Daniel Jesch) wird sie eigenhändig einreißen.

Reinhard Maximilian Werner

Im Öffnen eines Klettverschlusses liegt Gewalt. Feine, hartnäckige Synthetikhärchen schnellen voneinander los und erzeugen einen irren Ton. Im Akademietheater klingt dieser wie ein Riss in der Luft. Woyzeck (Steven Scharf) reißt die Plastikplanen einer Zirkuskuppel ein, zunächst zögerlich und dann heftiger, sodass die schweren, knirschenden Planen bald in Einzelteilen aus dem Schnürboden gedonnert kommen. Schock. Ist das jetzt Woyzeck, der klägliche, zum Erbsenessen verdonnerte Füsilier aus Georg Büchners Dramenfragment? Mit dem im Schulunterricht die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts unterfüttert wird?

Diesen Woyzeck, den Not leidenden, durch Mangelernährung kranken, zur Unterhaltszahlung verpflichteten Wehrmann hat Regisseur Johan Simons in ein ganz eigenes Bild gefasst. Er stellt seine Geschichte als Existenzkampf in die Manege eines Zirkuszelts. Eine riskante Idee, wenn man bedenkt, wie eindimensional und festklebend Elemente des Zirkus wirken, wie schnell man mit den am traurigen Humptata anknüpfenden Assoziationen in enge Gassen kommt.

Vorhang aus Regen

Hier aber verschwindet derlei Brimborium schnell, übrig bleibt die ramponierte Hälfte einer Manege mit blutrotem Kieselsand. Auf sie werden über einen Vorhang aus Regentropfen von Zeit zu Zeit schwarz-weiße Flimmerbilder von Zirkusszenen projiziert. Die Metapher der Inszenierung ist also: der Mensch als dressiertes Wesen, als Geschöpf, dem andere beim Scheitern zuschauen, das halbherzig angefeuert wird, über das Seil zu springen, und dann fällt. Simons, der 2017 mit Radetzkymarsch sein spätes Burg-Debüt gab, entwickelt auf dieser Arenabühne von Stéphane Laimé einen ungewöhnlichen Spielstil. Ähnlich wie schon in seiner Penthesilea bei den letztjährigen Salzburger Festspielen erzählen hier die Körper. Sie verhalten sich in größter Anspannung zueinander. Hier reden und agieren keine "Charaktere", sondern Lebewesen mit gewissen Kennzeichen: Stolz, Lebenslust, Unsicherheit, Größe.

Dialog der Körper

Und wäre Simons nicht erklärter Büchner-Verehrer und hätte er Woyzeck nicht schon mehrfach inszeniert, so würde es vielleicht schwer fallen ihm zu verzeihen, wie radikal er den Text auf ein paar wenige markante Sätze runterkürzt. Vielmehr eben als durch das Gesagte finden die Dialoge über die Körper statt: schräges Vorbeugen, Fingerstiche in die Luft, Aneinanderlehnen, voreinander an einem umgefallenen Gerüst Baumeln; der Hauptmann (Daniel Jesch) kommuniziert gar im Yogakopfstand.

Büchners Sprache hingegen zieht nur in Satzfetzen vorbei und reiht sich häppchenweise in diese Kunstwelt voller Geräusche ein (siehe Klettverschluss-Sound). Von Anfang an zeigt ein dumpfer Ton aus der Ferne (Musik: Warre Simons) die Stimmung an. Selbst die Sprache wird zum Geräusch, und zwar dann, wenn Woyzeck, der nobel in sich gekehrte Mann, in einer Art Fantasie-Italienisch oder Grammelot, eine lautmalerische Brabbelsprache, wechselt – es grüßt die Commedia dell‘arte. Sie münzt das Pathos des Sozialdramas um in eine Leichtigkeit, die die Figuren zum Leuchten bringt, herausgerissen aus ihrer Opferecke. Insbesondere wächst die Rolle der Marie durch die großartige pantomimische Interpretation Anna Drexlers (Tochter von Burgschauspieler Roland Koch) an zu Woyzecks ebenbürtigem Gegenüber.

Tambourmajor in Hotpants

Sie beide sind das unbestrittene Zentrum der Inszenierung; Doktor (Falk Rockstroh) und Großmutter (Martin Vischer) lediglich zu Zaungästen verdonnert. In dieser formelhaften Show der Deformationen nimmt der Tambourmajor (Guy Clemens) die Rolle des Zirkuspferdes ein. In Hotpants prahlt er mit seiner Männlichkeit, und kann Woyzeck nur deshalb ausstechen, weil dessen Verlustpanik die Sinne verglühen lässt.

Steven Scharf verleiht Woyzeck im blauen Drillichzweiteiler unerschütterliche Würde. Er schreitet, von den Lohnverhältnissen erdrückt, durch die Manege und gibt seine punktuellen Ächz- und Wehklagelaute mit großer Eleganz wider. Es sind die besten Momente jene, in denen Schwere und Ausweglosigkeit luftig-leicht daherkommen. Wenn aus der Schönheit eines Gefühls der Abgrund winkt. Simons hat‘s drauf!

Spielerischer Leichtsinn

Nur sackt dieser fantastische Flow etwa nach der Hälfte ab. Der spielerische Leichtsinn weicht. Simons will eben doch noch die Härte des Sozialdramas konkret ausspielen. Die flockige Erzählung, in der sich die Figuren ihr Los auf Distanz gehalten haben, geht ein Stück weit verloren. Die Körper werden nicht mehr wie bis dahin tänzeln, sondern Heftigkeit behaupten. Diese Kurve gelingt nicht wirklich. Es bleibt dennoch ein beeindruckender Abend.

Die Drastik verschärft sich also. Woyzeck kopuliert splitternackt mit dem von ihm niedergerissenen Zirkusgerüst. Subtext: Die Untreue seiner Freundin Marie macht ihm den Garaus. Diesen Verrat arbeitet Simons schärfer heraus als die Schikanen durch Arzt und Hauptmann. Ein Mann zu sein, das war die letzte unversehrte Bastion seiner Existenz gewesen. Auch gehört das berühmte Hasenlied vom Beginn ("Saßen dort zwei Hasen,/ fraßen ab das grüne, grüne Gras"), eine Anspielung auf Sexualität, zur lautmalerischen Grundausstattung des 100-minütigen Abends.

Eine Lesart wie diese, die die Figuren nicht niederdrückt, sondern inmitten ihrer schwierigen Existenz erstrahlen lässt, ist ungewöhnlich und erhebend.