Jeff Jarvis: "Was den Journalismus betrifft: Der Wert unserer Arbeit liegt nicht in den Geschichten, die wir verfassen, sondern in den zugrundeliegenden Informationen. Und in einer freien Gesellschaft kann niemand Information besitzen."

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Frage: Immer mehr Menschen abonnieren Streamingdienste wie Netflix und Amazon Prime, immer weniger Zeitungen. Glauben Sie, Journalisten müssen sich an die emotionalen Narrative anpassen?

Jarvis: Ich glaube, die Idee, dass wir Geschichtenerzähler sind, hat uns verführt. Verführt zu einem Denken, dass wir den Menschen Drama bieten müssen, um Aufmerksamkeit zu bekommen, und dass wir fähig sind, Motive von Menschen zu erklären – was nicht der Fall ist. Ich will die "Geschichte" nicht abschaffen, ich will nur sagen, dass wir sie zu inflationär benutzen.

Ich habe gerade das Buch "How history gets things wrong: the neuroscience to our addiction to stories" von Alexander Rosenberg gelesen. Der Autor erklärt darin, dass wir einen bestimmten Mythos haben, den wir "theory of mind" nennen. Laut diesem Mythos treffen wir unsere Entscheidungen aufgrund des Zusammenspiels unserer Überzeugungen und Wünsche. Die Neurowissenschaften haben bewiesen, dass das nicht stimmt. So erzählen wir aber Geschichten, so schreiben wir Geschichten –so funktioniert der Journalismus.

In "Everyday Chaos", einem anderen Buch, das nächsten Monat erscheint, trifft David Weinberger die Prognose, dass maschinelle Lernprozesse und KI-Verfahren wie A/B-Tests viel bessere Prognosen treffen können als wir Menschen. Sie geben dabei aber keine Erklärungen ab. Der Algorithmus weiß nicht, warum er eine Korrelation findet, er weiß nicht, warum es funktioniert. Er stellt keine Fragen, er sagt einfach voraus. Aber wir wollen immer erklären, warum etwas passiert. Ich fürchte, dass wir uns einer Erkenntniskrise nähern.

Frage: Aber denken Sie nicht, dass Menschen Informationen besser aufnehmen können und besser mit ihnen zurechtkommen, wenn sie sie in Form einer Geschichte lesen und nicht als bloße Fakten?

Jarvis: Aber wenn wir sie während des Prozesses in die Irre leiten, ist es dann Journalismus? In "How history gets things wrong" erklärt Rosenberg das Dilemma am Beispiel der Blankovollmacht gegen Serbien, die Kaiser Wilhelm II. erteilen ließ. Es gibt unzählige Bücher darüber, warum er das getan haben könnte. Wenn es möglich wäre, den tatsächlichen Grund herauszufinden, warum gibt es dann so viele Bücher? Was wir tun, ist zu raten. Ein anderes Problem an einer Geschichte ist, dass sie einen Anfang und ein Ende voraussetzt. Das Leben per se hat keine Anfänge und keine Enden. Das Leben kann nicht in hübsches Geschenkpapier verpackt werden, aber wir machen genau das. Wir zwingen es in diese Form.

Frage: Sie haben öfter kritisiert, dass wir den Erfolg von Journalisten durch Klicks und Seitenaufrufe messen. Was wäre ein Alternativsystem, das mit unserem ökonomischen System vereinbar wäre?

Jarvis: Wir brauchen Werbeeinnahmen, um zu überleben, aber ich bin für eine Änderung der Werbemodelle. Wir, die Medien, haben in der Zeit vor dem Internet Kontrolle ausüben können: Wir haben entschieden, was gezeigt wird, wie viel dafür verlangt wird, wer Zugang dazu hat etc. Dieses Knappheitsmodell hat funktioniert. Dann kommt das Internet und bläst die Knappheit weg. Es ist ein Überflussmedium mit unendlich viel Werbung. Was passiert, wenn es Überfluss gibt? Die Preise gehen runter. Was passiert, wenn die Preise runtergehen? Die Verzweiflung steigt. Und was passiert, wenn die Verzweiflung steigt? Katzen, Kardashians und Donald Trump.

Dieses Werbemodell, das auf Menge und Aufmerksamkeit ausgerichtet ist, führt wiederum verstärkt zur Versuchung, auf die Instrumente des Geschichtenerzählens zurückzugreifen, um die Aufmerksamkeit von Menschen zu wecken. Das ist das Problem. Wir brauchen Modelle, die auf Wert basieren. Das müssen nicht unbedingt Abonnements oder Mitgliedschaften sein, es gibt auch andere Einnahmequellen wie Events, Bildung usw. Der CEO eines großen deutschsprachigen Medienhauses hat mich vor kurzem gefragt, welche KPIs wir in den Newsrooms bräuchten. Ich habe gesagt: "Es wird dir nicht gefallen, aber es geht um den Wert, den wir für die Öffentlichkeit erzielen. Das ist keine einfache Zahl, aber es geht darum, ob wir das Leben Einzelner besser machen."

Frage: Wie kann so etwas gemessen werden?

Jarvis: Ich weiß es nicht, aber es gibt Fortschritte. Wir müssen uns darauf konzentrieren, welche Bedeutung wir erzielen können. Wir müssen mit der Öffentlichkeit starten, die Menschen fragen, was sie in ihrem Leben brauchen, und dann überlegen, wie wir dazu beitragen können, diese Forderungen zu erfüllen. Es ist nicht leicht, ein Unternehmen auf diesen Werten aufzubauen. Aber wenn Menschen uns dafür schätzen sollen, weil wir deren Leben verbessern, dann führt kein Weg daran vorbei.

Frage: Ihrer Meinung nach soll Journalismus ein Service für die LeserInnen sein. Sie treten daher auch für ein Ende der Massenmedien und einen Auftrieb der Community-basierten Medien ein. Inwiefern unterscheidet das Journalismus dann noch vom Internet? Wenn Personen an bestimmten Themen interessiert sind, können sie diese ja googlen – den allgemeinen Überblick bekommen sie heute aber noch immer von Massenmedien.

Jarvis: Zuerst mal: Habt keine Angst davor, das Internet zu sein. Oft höre ich Leute sagen, dass das Internet nur ein weiteres Medium sei. Das ist falsch: Die Medien sind eine Teilmenge des Internets geworden, sie befinden sich fast vollständig dort – wie auch andere Sektoren der Gesellschaft: Kommunikation, Finanzen, Handel ... Es liegt an euch, was aus dem Internet wird.

Ich bin zu alt dafür. Ihr dürft nicht schüchtern sein. Hinterfragt die Dinge, die ihr lernt. Lernt sie, aber fragt euch: Warum machen wir das so? Wahrscheinlich hat es irgendwas mit Geld zu tun. Ich höre oft folgende Frage: Wenn wir Journalismus wirklich zu einem Service machen und Menschen als Individuen betrachten, enden wir dann nicht in Filterblasen und Echokammern? Ich glaube nicht. Redaktionelle Urteile werden immer wertvoll sein; Leitartikel, Kommentare und so weiter. Du wirst nicht einfach so eine Suchmaschine oder ein Social News Feed. Du hast noch immer einen Wert für die, die sagen: "Ich will wissen was sie darüber denkt."

Aber eine Zeitung ist für jeden da draußen genau dieselbe. Manche Teile interessieren mich einfach nicht. Als ich die "New York Times" noch abonniert hatte, habe ich jeden Tag den Sportteil weggeworfen. Sport interessiert mich einfach nicht. Ich interessiere mich aber für Medien. In der Printausgabe konnte die "New York Times" dieses Thema aufgrund mangelnder Ressourcen nicht abdecken – online schon, dort kann ich den Medienteil lesen und bin glücklich. Trotzdem weiß ich noch immer, welche Flugzeuge wo abstürzen und bin informiert über die Dinge, die in der Welt passieren.

Frage: Vor zwei Jahren haben Sie im ORF-Dialogforum gegen eine Content-Regulierung von Facebook & Co plädiert. Es wäre zu früh, das Internet zu regulieren. Sind Sie immer noch dieser Meinung?

Jarvis: Darüber habe ich erst letztens geschrieben. Mit den europäischen Regulierungen wurde versucht, großen Plattformen Macht zu nehmen. Die meisten haben ihnen aber nur mehr Macht gegeben. NetzDG in Deutschland überlässt Facebook die Entscheidung, was veröffentlicht werden darf und was nicht. Die GDPR (Europäische Datenschutz-Grundverordnung, Anm.) ist komplexer, kleinere Unternehmen können es sich nicht leisten, sich damit zu beschäftigen.

Meistens entsteht aus einer moralischen Panik der Drang nach einer einheitlichen Regulierung für das Internet – und das, ohne genügend Recherche betrieben zu haben. Ich stehe Regulierungen kritisch gegenüber, aber ich sage nicht, dass es keine geben sollte. Sie sollten aber auf echtem Bedarf beruhen, gut recherchiert sein und vor echtem Schaden schützen.

Vor kurzem war ich Teil der Transatlantic High Level Working Group on Content Moderation and Freedom of Expression, wo ich von einem Regulationsmechanismus erfahren habe, den ich mir vorstellen könnte. Er besteht aus zwei Teilen: Erstens soll der Staat, nicht die Unternehmen, illegalem Verhalten im Netz nachgehen. Dafür soll ein staatlicher Internet-Gerichtshof eingeführt werden. Facebook und Google wollen ja die Rolle des "Gerichts" gar nicht einnehmen.

Durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Deutschland hat Facebook beispielsweise mit hohen Strafen zu rechnen, wenn es Inhalte, die im Verdacht stehen, illegal zu sein, nicht binnen 24 Stunden runternimmt. Facebook geht dann auf Nummer sicher und löscht viele Dinge, die eigentlich nicht gelöscht werden müssten.

Der zweite Teil des Vorschlags betrifft die Community-Standards. Jede Plattform sollte ihre eigenen Regeln haben und öffentliche Gespräche darüber führen, was diese beinhalten. Das gibt uns Flexibilität, während wir lernen können, was das Internet überhaupt ist und was wir wollen. Dieses Regulationsregime wäre meiner Meinung nach sinnvoll. Bisher war der Großteil der Regulationsmechanismen aber eher erschreckend – vor allem Artikel 1113 über das neue Copyright und die Uploadfilter. Das wird noch sehr schädigend sein für das Recht auf Meinungsfreiheit.

Frage: Hätten Sie eine Idee, wie Urheberrecht gewährleistet werden kann, ohne die Meinungsfreiheit im Internet zu beschränken?

Jarvis: Ich glaube, wir brauchen eine Art Verdienstsystem. Oft tragen eine Reihe von Zwischenschritten zur Kreativität bei, und jeder Schritt in dieser Kette, jeder Beitrag sollte notiert und belohnt werden.

Angenommen, du bist Singer-Songwriter, und ein Gedicht inspiriert dich, einen Song zu schreiben. Dann komm ich und nehme eine richtig schlechte Version desselben Songs auf. Dann kommt jemand anderer und nimmt eine weitere Version des Songs auf, der dann der Soundtrack eines Films wird. Und dann teilt jemand diesen Soundtrack in den Social Media, und der Song wird noch berühmter. Ich würde ein System wollen, dass jeden dieser Schritte honoriert: den des Dichters, des Songschreibers, den Film, die sozialen Medien. Was uns hier begegnet, ist eine Art Metapher für Eigentum. Der Song ist ein Eigentum, so wie ein Handy: Man kann ihn kaufen und verkaufen. Wir brauchen neue Metaphern, neue Modelle.

Was den Journalismus betrifft: Der Wert unserer Arbeit liegt weniger in den Geschichten, die wir verfassen, als in den diesen zugrundeliegenden Informationen. Und in einer freien Gesellschaft kann niemand Information besitzen.

Frage: Wie kann die Qualität des Journalismus gewährleistet werden?

Jarvis: Es stört mich, dass Journalismus sich nicht selbst beurteilt. Wer sonst sollte denn die Standards setzen? Fox News hat die USA einer Gehirnwäsche unterzogen. Ich war hocherfreut, als die "New York Times" einen langen Artikel über Fox News geschrieben hat, um darzulegen, was diese wirklich sind: ein politischer Akteur. Wir müssen härter werden, was unser eigenes Feld betrifft. Wir können nicht von Google erwarten, seine Inhalte zu säubern, wenn wir unsere eigene Arbeit nicht kritisch begutachten können. (Melissa Erhardt, 16.4.2019)