Senzow frei nach Bulgakow: "Die Feigheit ist die größte, die schlimmste Sünde auf Erden." Er hat sich diese Sünde nicht vorzuwerfen.

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Eigentlich will man sich gar nicht vorstellen, wie ein Alltag in Strafkolonie IK-8, weißer Bär genannt, aussieht. Da oben im russischen Norden, in der Nähe der Kleinstadt Labytnangi am Polarkreis, wo es meist um Erdgas und Holz geht und darum, den Widrigkeiten des rauen Klimas ein würdiges Leben abzutrotzen.

Und nun hält man dieses schmale Büchlein in der Hand, mit diesem groß aufgedruckten Titel, der einem wie ein Billboard am Rande einer Wüstenstraße ins Auge springt: Leben – gedruckt in großen Buchstaben. Dahinter blickt ein junger Mann den Leser an, zuversichtlich, zurückhaltend fröhlich, bestimmt. Der Mann ist Oleg Senzow.

Wer die tragischen Ereignisse verfolgt, die die Ukraine seit 2014 in Bann halten – die Annexion der Krim, den Krieg in der Ostukraine, die Toten, die Trauer -, den begleitet dieser Name, ohne dass man viel darüber weiß, wer dieser Senzow, der vor einem Moskauer Gericht im August 2015 wegen "Gründung einer terroristischen Vereinigung" zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, eigentlich ist.

Man hat die Bilder aus dem Gericht gesehen. Von einem höflichen, kämpferischen, zuweilen spöttischen Mann, der den Prozess als politisch und fabriziert bezeichnete. Von einem Mann, den offensichtlich ein großes inneres Selbstvertrauen antreibt.

Schlag der russischen Regierung

Vor Gericht sagte er: "'Die schlimmste Sünde auf der Erde ist die Feigheit.' Das hat der große russische Schriftsteller Bulgakow in dem Buch Der Meister und Margarita geschrieben, und ich bin seiner Meinung. Die Feigheit ist die größte, die schlimmste Sünde auf Erden."

Später gab es Fotos von einem abgemagerten, blassen Senzow, der bereit war, sich 2018, als in Russland und in der ganzen Welt die Fußballweltmeisterschaft gefeiert wurde, zu Tode zu hungern, aus Protest gegen seine unrechtmäßige Inhaftierung und die anderer ukrainischer Gefangener.

Hätte die russische Regierung sich nicht zu dem ungeheuerlichen Schlag gegen den Nachbarn entschieden, wäre Senzow heute vielleicht ein berühmter Regisseur seines Landes. Mit seinen Kurzfilmen und seinem ersten Spielfilm Gamer hat er bewiesen, dass er das Zeug dazu hat. Er würde über die roten Teppiche der Kinofestivals laufen, Preise entgegennehmen, Interviews geben, an seiner Karriere als Künstler feilen.

Aber das Leben hatte einen anderen Plan: Senzow stammt aus Simferopol, also von der Krim. Dort wurde er als Kind des Sommers im Jahr 1976 geboren. Dort wuchs er auf, dort unterstützte er die Protestbewegung des Euromaidan, die ab Ende November 2013 zu einer Hoffnung für die Ukrainer wurden, die glauben, dass sie das Leben in ihrem Land gegen alle Widrigkeiten und Unkenrufe tatsächlich verbessern können.

Zusammen mit anderen Aktivisten organisierte er Lebensmittellieferungen an ukrainischen Soldaten, deren Stützpunkte von russischen Einheiten blockiert wurden. Und aus seiner Heimat, der Krim, wurde er im Mai 2014 nach Russland verschleppt. Mit Journalisten spricht Senzow nicht. Man hört, dass er im Lager schreibt – Drehbücher und ein neuer Roman sollen bereits entstanden sein.

Informationen über sein Leben in dem Straflager sind spärlich, sicher eine Strategie. Man kann sie als den Versuch interpretieren, zu verhindern, man könnte das ungewollte Dasein am Polarkreis als Leben auffassen, vor allem als das Leben von einem, dem sehr viel an seiner Selbstbestimmtheit und an seiner Freiheit gelegen ist. Dabei war es die Ungerechtigkeit, die ihn in dieses ungewollte Dasein katapultiert hat.

Verlust und Liebe

In den acht Geschichten von Senzow, die der deutsche Verlag Voland & Quist nun unter dem wuchtigen Titel Leben veröffentlicht hat, geht es um Freiheit und Selbstbestimmung, um Nähe, Familie und Freundschaft, um Verlust und Liebe. Es geht um: das Leben, das uns den Saft der Sonne und das Rauschen des Universums in die Venen pumpt.

Um die Momente, die schon früh die Scheidewege definieren. Die Geschichten sind erstmals 2015 auf Russisch bei einem Kiewer Verlag erschienen, als Senzow bereits vor Gericht stand. Später haben ukrainische, polnische und russische Künstler und Autoren diese Geschichten in Videos und bei öffentlichen Lesungen vorgetragen, um gegen Senzows Inhaftierung zu protestieren und seine Freilassung zu fordern.

Geschrieben wurden die Geschichten in den Jahren, bevor Senzows Leben diese unheilvolle Wendung nahm – als "literarische Autobiografie", wie Senzow sie selbst in einem Nachwort bezeichnet. Da versucht ein Künstler, sich klar darüber zu werden, wie er zu dem geworden ist, der er ist. Bei solch einem Unterfangen richtet man den Blick intuitiv in die Kindheit und in die Jugend, wo die maßgeblichen Charakterprägungen angelegt werden.

"Die Kindheit war, wie Kindheit so ist – eine lichte Zeit. Ich wuchs in einem Dorf in einer Familie auf, die man als einigermaßen bildungsnah bezeichnen kann: die Mutter Erzieherin, der Vater Chauffeur. Wir lebten mehr schlecht als recht, aber an Schlechtes kann ich mich nicht erinnern."

Unverblümte Direktheit

Senzows Sprache ist schlicht, aber sie hat den Beat eines trabenden Pferdes, das ungestüm durch die Prärie des Lebens stobt. Er entfacht mit seiner Prosa kein literarisches Wunderwerk. Aber es gelingt ihm, in einer unverblümten Direktheit und mit einem Schuss sympathischer Melancholie von seiner Ich-Werdung zu erzählen – und von den kleinen, großen Momenten, die das Leben zum Leben machen, ohne dass es immer eine richtungsweisende Logik oder alles erklärende Kausalität gibt.

Er erzählt von der innigen Bindung zu seinem Hund, die er als kleiner Junge hatte und die anderen Interessen weicht, als der Junge älter wird. Erst als er seinen Hund begräbt, versteht er, wie sehr er ihn geliebt hat. Er erzählt von der Kindheit, von den Sommern auf dem Dorf, vom Fußballspielen auf staubigen Straßen, von seiner Clique und von seinen Freunden – und von der Zeit, wenn die Kindheit plötzlich vorbei ist, wogegen sich Senzow stemmt: "Ich will auch nicht langsam sein, ich will nicht alle Zeit der Welt haben. Ich will nie darüber nachdenken, wie ich bei irgendetwas aussehe. Ich will, dass es mich zerreißt. Die Kindheit ist vorbei, aber ich hüpfe immer noch auf einem Bein."

Immer den Mund aufmachen

Er erinnert sich an einen Jungen mit Downsyndrom, der von seinen Klassenkameraden gehänselt wird, wogegen der junge Senzow nicht einschreitet, obwohl es ihn stört. Er schwört sich, dass er künftig immer den Mund aufmachen wird, wenn jemand ungerecht behandelt wird.

Dann ist da seine Oma, die er nicht leiden kann. Zwölf Jahre lebte er bei ihr, mit ihr, und doch lebten sie nebeneinander her, ohne dass sie sich bemühten, einander besser kennenzulernen. Sie landete schließlich im Altersheim. "Ich versuchte, nicht an sie zu denken, im Grunde vergaß ich sie." In einer der eindringlichsten Geschichten lernt der Leser Makar kennen, der "auf der anderen Seite des Gartenzauns" lebte.

"Er war mein Nachbar und bester Freund meiner Kindheit, einer von denen, wo man nicht weiß, wie man sie kennengelernt hat – man kannte sie einfach schon immer." Makars Familie wird hart vom Ende der Sowjetunion getroffen. Das Ankommen in der neuen Zeit gelingt nicht allen. Der beste Freund wird zum Trinker und stirbt, als er im Winter besoffen draußen im Schnee einschläft.

Senzows Geschichten sind lebensbejahend, ohne kitschig oder pathetisch zu sein. Sie sind eine Art Protest gegen das fahrlässige Vor-sich-hin-Leben und eine schonungslose Bewusstwerdung darüber, was einen prägt und wie ambivalent und rätselhaft das Leben sein kann, wenn es einem vor die Füße spuckt. Das macht demütig, und es macht frei, dem Schicksal, wenn nötig, einen Kinnhaken zu verpassen.

Senzow hat für sich verstanden, dass er "so normal sein wollte wie die anderen", was ihm nicht gelungen sei. Andrej Kurkow, einer der bekanntesten Autoren der Ukraine, schreibt im Vorwort, dass Senzows Geschichten zeigen, "wie er zu dem furchtlosen Menschen wurde, der er heute ist". Das klingt vielleicht zu heroisch. Man könnte auch sagen: Senzow weiß, was er sich schuldet. (Ingo Petz, ALBUM, 13.4.2019)