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Im Februar stand Ingrid Levavasseur noch im Mittelpunkt der Gelbwesten-Proteste in Paris. Mittlerweile hat sie der Hauptstadt den Rücken gekehrt.

Foto: Reuters / Benoît Tessier

Ingrid Levavasseur hat nur gut eine Stunde Zeit, bevor ihr Zug in die Normandie abfährt. Nach langem Überreden ist sie bereit, in Paris noch einmal Journalisten zu treffen. Auch davon hat sie mehr als genug: Die 31-jährige Krankenpflegerin möchte die französische Hauptstadt so schnell und so weit wie möglich hinter sich lassen. Warum? "Ich kann nicht sagen, dass meine Erfahrungen hier sehr angenehm waren", meint die junge Frau. Nein, es sei sogar "hyper-violent" gewesen, knallhart, verbessert sie sich im Bistro beim Gare Saint-Lazare, wo die Züge in die Normandie abfahren.

Viele Gäste schauen sich um, als die Frau mit den langen roten Haaren eintritt. Ingrid Levavasseur ist in Frankreich ein Name, vor allem ein Gesicht. Die Pionierin in Warnweste war unter den Ersten gewesen, die Ende vergangenen Jahres einen Kreisverkehr südlich von Rouen sperrten. Als die Fernsehkameras eintrafen, erzählte sie, wie es die Leute in der Gegend immer schwerer hätten, zum Monatsende hin über die Runden zu kommen.

Geringes Einkommen

Die ruhige, klar argumentierende Französin widersprach völlig dem gängigen Bild der schimpfenden Autofahrer, die Radarfallen zerstörten und auf den Champs-Élysées Pflastersteine warfen. Bald wurde sie in die wichtigsten Fernsehsendungen eingeladen. Ohne ihre Geschichte auszuschmücken, erzählte die Pflegerin der Fernsehnation, wie sie in ihrem Normandie-Nest mit einem Monatssalär von 1250 Euro lebe. Dazu bezieht sie ganze 95 Euro an Sozialhilfe, obwohl sie seit ihrer Scheidung allein zwei Kinder im Grundschulalter aufzieht. An den Protestaktionen in Paris konnte sie nur teilnehmen, weil ihr die Mutter finanziell aushalf. Das überzeugte die Franzosen mindestens so sehr wie ihre Ausführungen über den schleichenden Verlust der Kaufkraft für die Geringverdiener. Im Jänner kündigte die Normannin an, sie werde bei den Europawahlen im Mai eine "gelbe" Wahlliste bilden, um den Anliegen der "gilets jaunes" Gehör zu verschaffen. Ihre Liste mit dem Namen "Sammlung der Bürgerinitiative" (RIC) kam in Umfragen aus dem Stand auf bis zu 13 Prozent.

Und das gefiel nicht allen – nicht einmal allen Gelbwesten. "Mit einem Mal wurde ich persönlich angegriffen und in den sozialen Medien schlechtgemacht", erinnert sich Ingrid Levavasseur. "Plötzlich kam der ganze Macho-Aspekt der Bewegung hoch. An einem Umzug wurde Levavasseur als "Dreckshure" beschimpft und körperlich so lange bedrängt, bis sie ihre Begleiter herausfiltern mussten. Radikale Gelbwesten und "Unbeugsame" riefen ihr nach, sie sei eine "Agentin Macrons".

Persönliche Angriffe

Den tieferen Grund für die persönlichen Attacken sieht Levavasseur darin, dass sie mit ihrer Liste sowohl Mélenchons Unbeugsamen als auch den Rechtspopulisten – die alle von der Gelbwesten-Krise zu profitieren hoffen – Stimmen wegzunehmen drohte. "Viele Exponenten sympathisieren mehr oder weniger offen mit Mélenchon oder Le Pen." Auch ihre Liste erwies sich bald als durchlässig: Ihr Sprecher Christophe Chalençon äußerte Sympathien für rechte Ideen wie den Einsatz "paramilitärischer Kräfte", um die Macron-Regierung zu stürzen. Ohne die Listengründerin zu informieren, lud er den italienischen Vizepremier Luigi di Maio nach Frankreich ein und ließ sich mit ihm ablichten. Von ihren eigenen Mitstreitern desavouiert, gab Levavasseur den Rückzug aus ihrer Liste bekannt.

Ihre Entscheidung hat auch Außenstehenden das chaotische Innenleben der "gilets jaunes" drastisch vor Augen geführt. Er zeugt vom Niedergang einer Bewegung, deren erste Forderung nach einer Benzinsteuersenkung landesweit sehr populär gewesen war. Am letzten Samstag haben nur noch 22.000 Gelbwesten demonstriert. Die Normannin will lieber in ihrer Region einen Verein für alleinerziehende Mütter gründen. Von Macron erwartet sie nichts: "Seine Bürgerdebatte wird nicht zu wirklichen Verbesserung für uns führen. Das Leiden und der Zorn der Landbevölkerung bleiben intakt", meint sie, um zu warnen. "Wenn dagegen nicht wirklich etwas unternommen wird, ist die nächste soziale Explosion programmiert."

Nach einem Blick auf die Uhr springt Ingrid Levavasseur auf: Ihr Zug wartet, um sie in die Normandie und zu ihrer Familie zu bringen. In Paris, wo sie zwei Monate lang ein Medienstar war, hält sie nichts mehr. (Stefan Brändle aus Paris, 13.4.2019)