Politologe Abraham ist mitteloptimistisch.

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Diese junge Inderin hält Traditionen hoch.

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Im November sprach der indische Thinktank-Gründer Reuben Abraham im Londoner Unterhaus darüber, wie sein Heimatland den Brexit sieht. Während der seit dem 11. April stattfindenden indischen Wahlen spricht er mit dem STANDARD über das unlösbare Problem Indien.

STANDARD: Sie sagen, die Staatsstruktur in Indien funktioniert nicht. Was meinen Sie damit?

Abraham: Sogar wenn ich Indien morgen eine Milliarde US-Dollar geben würde, wüsste der Staat nicht, wie er sie ausgeben sollte. Indien hat wahrscheinlich gerade Großbritannien als fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt überholt. Aber unser diplomatischer Dienst ist kleiner als Neuseeland. Wir haben circa 700 Diplomaten, die USA 20.000. Der indische Staat ist eine feudale, koloniale Struktur, die von den Briten geerbt ist. Drei Dinge konnten diese gut: 1) Steuern eintreiben, 2) Ressourcen gewinnen und 3) unter Zwang setzen. Die Staatsstruktur ist total kaputt. Entwicklungshilfeorganisationen denken, dass, nur weil man Geld verfügbar macht, etwas funktionieren wird. In einem Land wie Indien ist Geld das letzte Problem, das wir haben. Es ist absurd, zu denken, dass eine 2,8-Billionen-Wirtschaft nicht die 30 Millionen Dollar von einer deutschen Staatsagentur aufbringen könnte. Wenn jemand helfen will, dann sollte man sich fragen: Wie kann man institutionelle Staatsfähigkeiten aufbauen? Und nicht: Wie kann man den Staat umgehen?

STANDARD: Warum dauert der Wirtschaftswandel in Indien im Vergleich zu China so lange?

Abraham: Demokratie spielt eine große Rolle. 1947 haben wir eine Wahl getroffen, die kein anderes Land getroffen hat. Wir haben jeder Person das Stimmrecht gegeben, bevor wir eine wirtschaftliche Entwicklung hatten. Die Konsequenz daraus ist, dass in jeder Schlacht zwischen Wirtschaft und Politik die Politik gewinnen wird. Es ist nicht so, als würden die Leute nicht wissen, was das Richtige ist, aber wie Jean-Claude Juncker formulierte – wir wissen nicht, wie wir wiedergewählt werden, nachdem wir das Richtige gemacht haben.

STANDARD: Was muss man also tun?

Abraham: Wir brauchen eine massive Reform – der Verwaltung, der Polizei, der Justiz. Wie im Fall von Süditalien, das so ganz anders als der Norden ist, funktionieren auch in Indien manche Bundesstaaten besser als andere. Vergiss den Input. Welchen Output strebt man an? Man muss das Ende anschauen und dann den Prozess zurück zum Start konzipieren.

STANDARD: Aber wo beginnt man mit den Reformen?

Abraham: Zum Beispiel: Wir brauchen mindestens 7.000 Leute im diplomatischen Dienst, nicht nur 700. Das Schwierige ist: Wie stellt man den 701. ein? Denn die bereits existierenden 700 Diplomaten sind Maharadschas. Der Durchschnittsbotschafter hat sechs Länder in Afrika. Warum sollte er einen weiteren zulassen? Premierminister Narendra Modi wollte zehn weitere Leute zur indischen Verwaltung hinzuzufügen. Nach fünf Jahren dieser "autoritären" Regierung, wie man sie nennt, hat er null Leute reingebracht. So schwer ist das. Um das zu lösen, muss man das Problem im richtigen Maßstab betrachten. Stellen Sie sich Indien bitte nicht als lösbares Problem vor. Es ist einfach zu groß. Man muss es in Stücke auseinanderbrechen, die man lösen kann.

STANDARD: Um die Bürokratie zu reduzieren, muss man also mehr Leute einstellen?

Abraham: Es wirkt widersinnig, aber genau so ist es. Man muss oben hinzufügen und unten weglassen. In der Verwaltung könnte man 70 Prozent der Jobs streichen. Es ist wie mit den französischen Bauern. Man muss ihnen sagen: Ja, ihr könnt alle Subventionen haben, aber bitte baut nichts an. Und man darf komplizierte Probleme nicht mit komplexen verwechseln. Ein kompliziertes Problem ist ein Düsentriebwerk. Es ist sehr schwierig, aber wenn man es einmal verstanden hat, ist es gelöst. Ein komplexes Problem ist, wenn Feedback droht. Man interveniert, dann tritt Feedback auf, und man hat keine Ahnung, warum. Man muss ein komplexes Problem zu einem komplizierten Problem runterbrechen. Am Flughafen in Singapur muss man nie länger als fünf Minuten in der Schlange stehen. In Delhi steht man eine Stunde lang. Warum? Das ist ein lösbares Problem. Indien als Ganzes ist ein bedeutungsloses Konstrukt.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Abraham: Bis zur Unabhängigkeit gab es kein Land namens Indien, nie. Wenn man ein Land aus dem Nichts kreiert, hat man Angst, dass es auseinanderfallen wird. Ich denke, wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir tatsächlich ein Land sind. Daher kann man sich jetzt trauen, Macht vom Zentrum zu den Staaten zu verlagern. Doch wenn man die jetzige Struktur beibehält, hat man das Risiko, dass Indien auseinanderfällt, weil die Entwicklungsgeschwindigkeit zu unterschiedlich ist. Jeder Staat in Indien ist ein Bayern.

STANDARD: Wann sind die Dinge schiefgelaufen?

Abraham: Wie viele ehemalige kolonisierte Länder haben es geschafft, sich zu reformieren? Es ist sehr schwer, eine existierende Staatsstruktur rauszuwerfen, eine neue draufzusetzen – vor allem, wenn man innerhalb der Einschränkungen der Demokratie arbeitet. Die Briten haben die Struktur aufgebaut, um sich selbst zu bereichern.

STANDARD: Gäbe es eine Alternative zur kolonialen Struktur?

Abraham: Man muss mit dem leben, was man hat. Die Frage ist, ob es eine bessere Art gibt, diese politische Staatsordnung zum Funktionieren zu bringen. Was wir suchen, ist etwas wie die EU oder ein United States of India. Wenn Europa eine politische und monetäre Union verwirklichen könnte, dann wäre die EU das richtige Modell.

STANDARD: Wie sieht Indien den Brexit-Prozess?

Abraham: Als fast unglaubliche Dummheit. Die Brexiteers leben in der Illusion, dass Länder wie Indien nur darauf warten, Geschäfte mit Großbritannien zu machen. All die indischen Unternehmen sind nicht wegen Großbritannien in London, sondern wegen Europa. Wir fühlen uns in London bloß am wohlsten.

STANDARD: Gibt es gar keine postkoloniale Bindung?

Abraham: Theresa Mays erster außereuropäischer bilateraler Besuch, nachdem sie Premierministerin wurde, galt Indien. Es war ein Witz. Die Leute dachten: Warum ist sie da?

STANDARD: Und wie wird Europa wahrgenommen?

Abraham: Inder sehen Europa als großes Museum mit isolierten Gegenden, wo fantastische Sachen passieren: die Schweiz oder das industrielle Kernland Deutschlands oder Skandinavien. Der Rest ist Tourismus.

STANDARD: Und wo kommt da Österreich vor?

Abraham: Ich habe das Gefühl, dass Inder nicht viel über Österreich nachdenken. (lacht) (Anna Sawerthal aus Delhi, 16.4.2019)