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Soziale Bewertungen als großer Marktplatz: Wer sich in China wohlverhält, soll künftig mehr Punkte auf ein Sozialkreditkonto gutgeschrieben bekommen. Damit würden etwa Auslandsreisen einfacher.

Foto: AP / Tan Qingju

Polizist Xiao, dessen voller Namen nicht genannt wird, solange sein Urteil aussteht, muss sich seit März vor dem Mittleren Volksgericht in Changsha wegen schwerer Bestechlichkeit verantworten. Als Verantwortlicher für Verkehrsdelikte in der Provinzhauptstadt von Hunan machte er gemeinsame Sache mit seinem Freund Zhong, dem Besitzer einer Autowerkstatt. Dessen Kunden wussten, dass er helfen konnte, wenn sie gegen die Verkehrsverordnung verstießen.

Zhong wandte sich dann an Xiao. Der löschte Bußgelder und vor allem die den Führerschein gefährdenden Strafpunkte wieder aus dem Computer. Angeblich tat er das in über 400.000 Fällen. Dafür kassierte er von Zhong und anderen Beteiligten 42,4 Millionen Yuan (rund 5,6 Millionen Euro).

Wer kontrolliert die Kontrolleure?

Für den Pekinger Journalisten Zhang Yuzhe ist der Fall ein Warnsignal, wie leicht sich Punktesysteme manipulieren lassen. Und der Hintergrund ist brisant: Pekings Staatsrat will ja ab 2020 ein flächendeckendes gesellschaftliches Bonitätssystem zur Beurteilung aller Bürger mit Sozialkreditpunkten einführen lassen. In seiner Geschichte "Was ist Kreditwürdigkeit?", die er für das Finanz-Enthüllungsmagazin "Caixin" schrieb, gilt der korrupte Polizist als Beispiel dafür, wie fragwürdig das Überwachungssystem sei: "Wer kontrolliert die Kontrolleure?"

Peking will über Straf- und Lobdaten die Sozialkreditpunkte für jeden Einzelnen bestimmen. Pilotprojekte sind dazu in über 40 chinesischen Kreisen und 20 Städten angelaufen, die die finanzielle und gesellschaftliche Kreditwürdigkeit von Privatpersonen oder Unternehmen bewerten. Das Ganze ist noch Stückwerk, viele Kriterien geheim. Positive Punkte gibt es für alles und jedes: für den verantwortungsvollen Umgang mit Investitionen und Schulden, aber eben auch für soziales Verhalten bis in die Privatsphäre. Negativ zählen etwa Überfahren einer roten Ampel, "unmoralisches Benehmen" oder häusliche Gewalt.

Finanzfachleute würden kritisieren, schreibt Zhang, dass Peking nützliche Informationen zur finanziellen Kreditwürdigkeit mit politischen, moralischen und sozialen Bewertungen in einen Topf wirft. Er zitiert Wang Lu, einen früheren Mitarbeiter der Kreditabteilung der Zentralbank: Die Vorstellung, mit einem Kreditbewertungssystem zugleich soziale Probleme kitten zu können, sei "unrealistisch und schädlich."

Kredit mit Blut gekauft

In Suzhou, einer der 20 Städte Chinas, wo ein Pilotprojekt zum Aufbau des Bonitätssystems läuft, fängt jeder Bürger mit einem Grundkonto von jeweils 100 Punkten an. Mehr als 20 Behörden von der Polizei bis zur Geburtenkontrolle liefern die Punktebewertungen an das Zentrum. Das Gesundheitsamt notiert etwa sechs Pluspunkte für einen freiwilligen Spender von 200 Milliliter Blut. Abgedeckt werden 13 Millionen Personen, über die bisher 300 Millionen Daten erhoben wurden. Die Punktebilanz greift in das Alltagsleben jedes Bürgers ein. Sie entscheidet, ob er niedrigverzinste Bankkredite erhält, oder offeriert ihm soziale Vor- und Nachteile. Das beginnt beim kostenlosen Parkbesuch oder wirkt sich bei mangelhaftem Punktestand auf berufliche Beförderung aus.

Auch Chinas Zentralbank (PBC) ist einer der Betreiber des Bonitätssystems. Ihr 2004 aufgebautes "Kredit-Referenzzentrum" sammelte und speicherte bis August 2018 mehr als 3,3 Milliarden Daten von hunderten Millionen privater Kreditnehmer. Auch sie fordert nun immer mehr persönliche und familiäre Daten. Das hat eine erhitzte Debatte nach dem Warum ausgelöst. Die regierungsnahe Zeitung "Global Times" zitierte Stimmen aus der Diskussion: "Sozialkredite werden zum zweiten Personalausweis für Chinesen, zu ihrem unsichtbaren Lebenslauf."

"Caixin" zitiert hingegen chinesische Kritiker: "Kreditvergaben von Informationen abhängig zu machen, die nichts mit Finanzierungsfragen zu tun haben, ist nicht fair." Anwälte fragten nach den "rechtlichen Grundlagen" der staatlichen Bewertungssysteme.

Eine chinesische DSGVO?

Das Blatt stößt damit mutig eine Debatte an, die Peking bisher tabuisieren ließ und die auch nach dem Missbrauch privater Daten fragt: "Wer entscheidet, welche Daten gespeichert werden?"

Bisher wurde nur im Ausland der Kontroll- und Überwachungswahn Pekings kritisiert. Den einen gruselte es, dass Sozialkreditpunkte zu Bausteinen für einen totalitären Überwachungsstaat Orwell'-schen Ausmaßes werden, den Peking mithilfe der künstlichen Intelligenz erbauen lässt. Andere sehen in der neuen Definition von finanzieller, sozialer und moralischer Kreditwürdigkeit die Wiedereinführung konfuzianischer Wertesysteme in die Gesellschaft.

Chinesische Verfechter argumentieren dagegen, wie wichtig es sei, Vertrauen und Ehrlichkeit in ihrem Land wiederherzustellen. Sie führen den Niedergang solcher Werte auf die Übernahme marktwirtschaftlicher Praktiken zurück, ohne über ein effizientes Rechtssystem zu verfügen.

Die von "Caixin" nun angestoßene innerchinesische Debatte zum Bonitätssystem ist jedenfalls ein Fortschritt. Denn sie ruft auch nach dem Schutz der Daten und dem Schutz der Privatsphäre. "Haben lokale Regierungen die finanziellen und technischen Mittel, ihre Datensammlungen zu schützen", fragt das Magazin. Datenlecks würden finanzielle Verluste bedeuten. China brauche Gesetze, welche Daten gesammelt und gespeichert werden dürfen. (Johnny Erling aus Peking, 15.4.2019)