Der Guide "It's Not That Grey" steht kostenlos als Download zur Verfügung.

Foto: Guide "It's Not That Grey"

Sara Hassan (geb. 1992) war bis Juli 2018 politische Referentin für den Grünen-Abgeordneten Michel Reimon im Europaparlament. Hassan engagiert sich bei dem feministischen Frauennetzwerk "Period Brussels".

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Orte wie das EU-Parlament in Brüssel sind besonders gefährlich und begünstigen sexuelle Übergriffe, sagt Hassan. Viele haben dort nur berufliche Kontakte – und kein privates soziales Netz.

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Im Nachhinein wird es vielen Frauen oft klar: die ersten Anzeichen, das erste Unbehagen. Wenn der Chef lieber immer allein – ohne KollegInnen – mit ihr arbeiten wollte, immer wieder Komplimente äußerte, mal sachliche über ihre Arbeit, mal völlig deplatzierte, sexuell eingefärbte. Und irgendwann steckt man so sehr in einem Strudel von zu spät oder nicht reagieren, dass man sich selbst die Schuld gibt, wenn es zu drastischeren Übergriffen kommt.

Die EU-Mitarbeiterinnen Sara Hassan und Juliette Sanchez-Lambert haben ab 2015 zahlreiche Gespräche mit Frauen, die so etwas erlebt haben, geführt und schließlich die Gemeinsamkeiten aus den viele Geschichten über sexuelle Belästigung in einem Guide zusammengefasst. In "It's Not That Grey" definieren sie sowohl Kontexte, die Übergriffe begünstigen – zum Beispiel hohe Hierarchien –, wie auch verbreitete Strategien von Belästigern. So solle es Betroffenen ermöglicht werden, übergriffige Situationen früher zu erkennen, um rascher reagieren zu können.

STANDARD: Wie ist die Idee zu dem Guide entstanden?

Hassan: Ursprünglich geht das Ganze bis zur Gründung unseres Frauennetzwerks "Period" zurück. Als ich 2015 in Brüssel begonnen habe, gab es einige Wochen, in denen sich krasse Fälle sexueller Belästigung häuften, die Kolleginnen und ich erlebt haben. Wir waren über die Selbstverständlichkeit schockiert, mit der die Belästiger vorgegangen sind, seien es Jobangebote im Austausch für "Zwinkerzwinker", das Grapschen nach deinem Ausweis auf deiner Brust oder extreme körperliche Annäherung während eines beruflichen Gesprächs. Wenn man neu ist in diesem "Soziotop EU-Parlament", ist man erstmal darüber erschrocken. Juliette Sanchez-Lambert und ich haben damals sehr viel mit anderen gesprochen und gesehen, dass es sich um kollektive Erfahrungen handelt. Deshalb haben wir begonnen, Workshops zum Thema sexuelle Belästigung zu geben, wo viele Erfahrungen ausgetauscht wurden. Dadurch haben wir die ähnlichen Strukturen gesehen und gemeinsame Strategien entwickelt.

STANDARD: Das war also alles noch vor #MeToo?

Hassan: Ja, mit #MeToo haben wir quasi das mediale Echo unserer Geschichten hier in Brüssel vernommen, die ja weltweit passieren. Das Problem ist, dass wir ständig nur eine sehr hohe Eskalationsstufe von sexueller Belästigung sehen. Bebildert wird sie in den Medien oft mit einem Rock und einer männlichen Hand drauf – also einem krassen Übergriffsmoment. Doch wir sehen nie, wie so etwas begonnen hat. Unsere Überlegung war: Wenn die Vorfälle sexueller Belästigung doch alle so ähnlich sind, dann könnten wir doch zurückgehen und schauen, wo es beginnt. Wir wollten die ersten Momente lange vor der Eskalation festmachen und dadurch erkennen, wie Machtmissbrauch und damit einhergehend sexuelle Belästigung anfängt.

STANDARD: Ihr habt die Umstände zusammengefasst, die sexuelle Übergriffe begünstigen. Warum ist das wichtig?

Hassan: Wir wollten den Dingen einen Namen geben, damit sie für die Betroffenen schneller fassbar werden. Die Grenzen zu verwischen ist ein Beispiel für eine solche Strategie, die sogenannte "Grauzone". Die Erweiterung des Arbeitskontextes ist in Brüssel stark verbreitet. Viele Leute sind nur für den Job hier, sie kennen deswegen privat wenige Menschen, sondern vor allem Leute aus der Arbeit. Deshalb wird stark der Eindruck vermittelt: "Wir sind eine große Familie", "Wir sind alle Freunde". Jeden Donnerstag, wenn die Abgeordneten wegfahren, gibt es in Brüssel direkt vor dem Parlament eine große Party. Man ist erleichtert nach einer harten Arbeitswoche, es fließt viel Alkohol. Dort prallt dann alles aufeinander: jüngere Frauen, etwa Praktikantinnen, und ältere Männer in Machtpositionen. Angesichts solcher Ungleichheiten ist es nicht einfach ein "Aufeinandertreffen". Wenn nicht klar ist, ob das noch Job oder schon privat ist, kann sehr leicht Machtmissbrauch auftreten. Und an wen wende ich mich, wenn es einen Übergriff gibt? An meinen Chef, der vielleicht gerade mein Trinkkumpan ist? Da wird es kompliziert.

STANDARD: Das von euch so genannte "Red Flag System" soll als eine Art Leitsystem funktionieren, um reagieren zu können. Ihr schreibt zum Beispiel vom "Good Guy Syndrome", dem gemäß sich viele besonders schwer damit tun, zu realisieren, dass auch Menschen mit hohem Sozialprestige sich falsch verhalten können.

Hassan: Wenn man griffige Namen für solche Prozesse findet, kannst du sie womöglich schneller erkennen und zweifelst deine eigene Wahrnehmung nicht so sehr an. Wir hoffen, dass es auf zwei Ebenen funktioniert: dass man sich einerseits anhand der Kategorien womöglich daran erinnert, wie sich übergriffiges Verhalten vielleicht schon mal in der Vergangenheit angebahnt hat. Andererseits soll es dabei helfen, zu erkennen, dass das kein Zufall ist, wie eine Situation abläuft, sondern dass es System hat. Wenn man zum Beispiel neu in einen bestimmten Arbeitskontext hineinkommt, ist man besonders verwundbar. Man kennt sich nicht aus, man möchte, dass einen die anderen mögen, kennt die Regeln nicht, und man wird sich wahrscheinlich bemühen, dass man sich schnell adaptiert. Hohe Hierarchien, Abhängigkeitsverhältnisse, wenig Kontrolle für Menschen in Machtpositionen – das sind ideale Bedingungen, in denen sich Übergriffe und gewisse Manipulationsstrategien entfalten können.

STANDARD: Die #MeToo-Debatte hat auch gezeigt, dass manche Frauen kein Problem mit einer Situation haben, die für andere sehr wohl einen Übergriff darstellt. Entlang welcher Grenzen verlaufen diese unterschiedlichen Wahrnehmungen? Ist es eine Generationenfrage?

Hassan: Es gibt diesbezüglich viel Wissen, so eine Art subkutanes Gefühl, wie sich ein Übergriff anfühlt: Dass der Handabdruck auf deinem Körper kleben bleibt, wenn dich jemand berührt hat, oder dieses Erstarren, Nicht-reagieren-Können – das sind deutliche Hinweise, dass etwas nicht Ordnung ist. Doch es gibt auch einen großen Normalisierungseffekt: Je länger man solchen Sachen ausgesetzt ist, desto mehr versucht man sich davon zu überzeugen, dass das "normal ist" in diesem Umfeld. Daher würde ich gar nicht so sehr von einem Generationen-Gap sprechen.

STANDARD: Nochmal zurück zur "Grauzone", die auch im Titel des Guides vorkommt. Der Begriff spielt in den Debatten über #MeToo eine große Rolle: Viele plädieren dafür, dass diese Grauzone für die Erotik wichtig sei, dass manches offen, unklar oder geheimnisvoll bleiben sollte.

Hassan: Wir haben den Begriff der "Grauzone" ganz bewusst gewählt – und unser Guide soll durchaus eine Kampfansage an diese Grauzone sein. Die Grauzone wird gern als etwas schöngeredet, das einer romantischen Anbahnung inhärent ist. Das geht sich aber nur dann aus, wenn man die Perspektive der Betroffenen völlig ausblendet. Wenn man sich die Berichte der von sexueller Belästigung Betroffenen anhört, stellt sich heraus, dass der Graubereich eigentlich nicht besonders grau ist. Unklarheiten und Spannungen gibt es in sozialen Beziehungen natürlich immer – es ist nicht alles eins oder null. Aber wir wissen, dass Belästiger diese "Unklarheiten" auch ganz gezielt einsetzen, sie nutzen, um zu sehen, wie weit sie gehen können. Meist semiöffentlich, damit die Grenzverschiebung gleich mehrere Personen mitbekommen. Das Umfeld unterstützt das, wenn es nicht eingreift und etwas als "Schmäh" herunterspielt. Doch was für manche vielleicht harmlos wirkt, kann für die anderen existenziell bedrohlich sein.

STANDARD: Der Guide richtet sich also nicht nur an Betroffene?

Hassan: Nein, wir wollen auch das Umfeld in die Pflicht nehmen und zeigen, dass sexuelle Belästigung keine private Angelegenheit zwischen Täter und Betroffenen ist, sondern dass das Thema uns alle angeht. Dritte können ganz entscheidend tätig werden. In allen Geschichten, die wir gehört haben, hätte ein beherztes Eingreifen einer dritten Person vieles verhindern können. Wir brauchen Menschen, die unangenehme Dinge tun, auch wenn sie nicht direkt betroffen sind.

STANDARD: Wie weit ist unsere Gesellschaft beim Thema Konsens?

Hassan: Ich hatte während des Schreibens oft den Eindruck, dass es völliges Neuland ist. Es gab eigentlich nichts, worauf man sich stützen konnte. Ich kann mich an die Debatte über das Gesetz in Schweden erinnern, wo Sex ohne Einverständnis als Vergewaltigung klassifiziert wurde. Da herrschte sofort Verwirrung, weil Konsens als etwas gilt, das als gegeben angenommen, aber nicht verhandelt wird. Es gibt einen männlichen Sprecher im Diskurs, der ist dann gleich furchtbar durcheinander, wenn plötzlich die andere Perspektive daherkommt. Doch diese Perspektive wird zwischen Betroffenen, vor allem zwischen Frauen, schon lange besprochen. Doch für viele Herren der öffentlichen Meinung ist es der totale Schlag ins Gesicht, weil sie immer angenommen haben, es sei doch völlig okay so, wie es läuft.

STANDARD: Welchen Status quo hat das Thema sexuelle Belästigung und Übergriffe heute?

Hassan: #MeToo war ein Riss im Diskurs, und der geht nicht mehr weg. Trotzdem gibt es noch sehr viel Luft nach oben. Verschiedenste Institutionen sind jetzt sehr schnell damit zu beteuern, es gebe bei ihnen "null Toleranz". Oft sind das nur Worte, weil viel zu viel Angst davor besteht, sich durch dieses Thema durchzuarbeiten. Derzeit ist es für viele erst einmal nur ein totaler Reputationsschaden, wenn irgendwo ein Belästigungsfall auftritt – und deswegen versucht man es auch zu vertuschen. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass sich viel tut. Denken wir nur an aktuelle Dokumentationen wie "Leaving Neverland" oder "Surviving R. Kelly" – da steckt viel Erschütterungspotenzial drin. Dokumentationen wie diese konfrontieren die Menschen mit den unglaublichen Ausmaßen des Themas – so sehr, dass es immer schwerer fällt, wegzuschauen. (Beate Hausbichler, 15.4.2019)