Wels, Hauptbahnhof. Willkommen in der durchschnittlichsten Stadt des Landes!

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Was kann eine Kleinstadt? Stefan Kutzenberger verbrachte gerade drei Monate als Stadtschreiber in Wels. Im Gastkommentar schildert der Schriftsteller und Literaturwissenschafter seine Beobachtungen.

"Die Kleinstadt ist die schlimmste aller menschlichen Siedlungsformen", schreibt Christian Schachinger im Kulturteil des STANDARD (siehe "Die Stadt den Göttern, den Teufeln das Land"). Sein Versuch einer Ehrenrettung scheitert: Die Götter leben in der Stadt, die Teufel auf dem Land. Das geht aber am Thema vorbei, da die Kleinstadt ja definiert, dass sie weder Stadt noch Land ist. Das Purgatorium also? Wels, das von Schachinger gewählte Beispiel, als Vorhölle Österreichs, der Welt? Ich war drei Monate lang Stadtschreiber von Wels und habe so ernsthaft wie möglich versucht, dieser Frage anthropologisch auf den Grund zu gehen.

Wels ist die durchschnittlichste Stadt des Landes, stadtgewordene Mediokrität; wer diese einmal inhaliert hat, fühlt sich anderswo unterfordert, denn es braucht mehr Mut, sich der mäßigen Schönheit auszusetzen, als den Extremen einer Weltstadt wie Wien. Wels (und damit auch St. Pölten und Mürzzuschlag, sogar Linz und Graz) ist immer genau dazwischen, man spricht weder Dialekt noch Hochdeutsch, lebt weder in einer Großstadt noch in der Provinz, ist weder anonym noch behaglich aufgehoben, genießt weder die schroffen Felsen der Alpen noch die öden Weiten der Ebene, atmet weder die arrogante Intellektualität der Kultur noch den herben Charme der Industrie. Man hat eine Einkaufsstraße, einen Fußballclub, man ist freundlicher als in Wien, distanzierter als im Dorf, umgeben von Freizeitpolizisten und Oberlehrern.

Was ist Heimat?

Als ich von Wels einmal die zehn Minuten im Zug nach Linz fuhr, um meine Heimatstadt zu besuchen, die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, war es kurz ein echtes Heimkommen, auch wenn der neue Bahnhof mit nichts an den Bahnhof meiner Jugend erinnerte, vor dem man sich bei den steinernen Löwen, wahrscheinlich Statuen aus der Nazi-Zeit, getroffen hatte. In der Straßenbahn zum Hauptplatz erkannte ich als Bewohner der Bundeshauptstadt aber arrogant, wie offensichtlich Linz Landeshauptstadt ist, trotz neuer Oper, neuer Straßenbahnzüge und der gleichen Shops entlang der Fußgängerzone wie in allen anderen Städten der westlichen Welt, der Welt allgemein.

Das sollte Heimat sein? Aber was ist schon Heimat. Schriftsteller sagen gerne, ihre Heimat sei die Literatur, die Sprache. Aber das Linzerisch, das ich von den Jugendlichen mit den sie entstellenden Frisuren um mich herum hörte, hatte nichts mit mir zu tun (hatten die 80er-Jahre in Linz nie aufgehört, oder waren sie von mir unbemerkt wiedergekommen?). Habe ich als Schüler auch so gesprochen? In Wien kam es mir vor, als redete ich noch Oberösterreichisch, doch verglichen mit den stammelnden Lauten um mich herum sprach ich wie ein Burgschauspieler. Das war nicht meine Heimat. Vielleicht existierte diese tatsächlich am ehesten in der Literatur. Also fuhr ich wieder zurück nach Wels, wo ich schließlich ein Zimmer zur Verfügung gestellt bekommen hatte, um zu schreiben, um Literatur zu schaffen.

Lebendigster Ort: der Schlachthof

Auch nach drei Monaten erheiterte mich, dass die Ringstraße ein gerader Platz ist. Auf dem Medien-Kultur-Haus, das von Fellner & Helmer, den wichtigsten Theaterarchitekten der Monarchie, gebaut worden ist, steht Sparkasse, die wiederum mit Museum beschriftet wurde, nur um die Galerie der Stadt Wels zu beherbergen, was ja wunderbar ist, mich beim ersten Besuch aber daran vorbeigehen ließ. Dafür heißt das Programmkino einfach Programmkino, während das beste Hotel der Stadt, das Hotel Greif, eine Jugendherberge wurde, die nun abgerissen wird. Der lebendigste Ort der Stadt ist wiederum einer des Todes, der Schlachthof nämlich.

Der größte Kleinstadtvorteil ist, dass man alles zu Fuß gehen kann (was die Welser nicht wissen und weshalb sie wie besessen im Labyrinth ihres undurchschaubaren Einbahnsystems im Kreis fahren). Eine Stadt besteht aber weder aus den Straßen, die sie durchziehen, noch aus den Gebäuden, die sie säumen, sondern aus den Einwohnerinnen und Einwohnern, die diese Gebäude bewohnen. Wochenlang habe ich mich mit allen möglichen Leuten getroffen und mit ihnen über Wels gesprochen, um herauszufinden, wie es ist, hier zu leben, welche Ängste und Freuden sie erfüllen. Doch wann immer man mich fragte, wie sie denn so sind, die Welserinnen und Welser, wand ich mich und kam zu keiner zufriedenstellenden Antwort. "Man kann nicht von den Welsern sprechen, da sie zu verschieden sind, jeder Mensch ist ein Individuum", meinte ich einmal hilflos bei einer Podiumsdiskussion und hoffte – wohl vergebens –, dass die implizite Botschaft, dass man eben auch nicht "die Türken" und "die Ausländer" sagen kann, angekommen ist.

Der Mut der Kleinstädter

Seit 1. April bin ich wieder zurück in Wien und erkenne, dass ich es vermisse, ständig Leute auf der Straße zu treffen, mit denen man kurz quatschen kann. Wels ist immer dazwischen, wie das halbvolle Glas, das genauso halbleer sein kann. Lebt man in einer Kleinstadt, ist man zurückgeworfen auf sich selbst, und das verlangt in der Tat großen Mut. Denn man ist es selbst, der entscheidet, ob man im Paradies oder in der Hölle lebt. (Stefan Kutzenberger, 15.4.2019)