Foto: Heribert Corn

In den vergangenen Wochen hatten sich mehr als 17.000 Menschen für die Aktion "Europa spricht" registriert. Am 11. Mai werden nun überall auf dem Kontinent Personen mit unterschiedlichen Meinungen in politischen Zwiegesprächen aufeinandertreffen, um über Differenzen und Gemeinsamkeiten zu diskutieren. Aus der Auswertung der Teilnehmerdaten lässt sich eines bereits erkennen: Die drängenden Fragen unserer Zeit spalten ebenso, wie sie vereinen. Die Unterschiede zwischen den Ländern können dabei beträchtlich ausfallen.

Getragen wird das Projekt "Europa spricht" von der Dialogplattform My County Talks und 17 internationalen Medien – darunter DER STANDARD, "Zeit Online", "Financial Times", Arte.tv, "La Repubblica", "Politiken", "Gazeta Wyborcza" und "Efsyn". Teilnehmer und Teilnehmerinnen wurden zur Anmeldung mit sieben polarisierenden Fragen etwa zur nationalen Identität, zur Migrationen, zum Grenzschutz oder auch zur Klimapolitik konfrontiert. Anhand der Antworten wurden die jeweiligen Gesprächspartner ermittelt und zueinander in Verbindung gebracht. Nun gilt es bis zum zum großen Treffen zu vereinbaren, wo man einander begegnen will – sei es in echt oder virtuell per Videochat. Die Zusammensetzung der Paare übernahm ein Algorithmus. Geachtet wurde hierbei darauf, dass die Fragen möglichst unterschiedlich beantwortet wurden und die Gesprächspartner möglichst in benachbarten Ländern wohnen.

Die meisten "Europa spricht"-Partizipanten kommen aus Deutschland und Österreich, gefolgt von Italien, Belgien und Großbritannien. Auf die Einwohnerzahl gerechnet sind die österreichischen Diskutanten überproportional stark vertreten. Auf besonders großes Interesse stieß die Initiative während der Anmeldephase unter diesem Gesichtspunkt auch in Finnland, Belgien, Dänemark und Litauen. Wobei hier gleich vorweg klargestellt werden muss, dass "Europa spricht" aufgrund der Austragungsmethode gewiss keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung widerspiegeln kann. Die Anmeldung erfolgte auf freiwilliger Basis. Voraussetzung war lediglich, dass man in Europa lebt und volljährig ist.

Das Teilnehmerfeld ist bunt gemischt – von Studenten, Lehrern, Feuerwehrkräften oder Bankangestellten bis hin zu Ärzten, Unternehmern und Politikern. Im Schnitt kommen die jüngsten Diskutanten aus Deutschland und Polen. Die ältesten "Mitstreiter" kommen aus Dänemark. Die Geschlechterverteilung ist in Österreich ebenso unausgewogen wie bei allen anderen Ländern: Mehr als zwei Drittel der Angemeldeten sind männlich. Ein Phänomen, das sich bei online initiierten Interaktionen immer wieder zeigt.

Was trennt und was verbindet

Die zur Anmeldung gestellten sieben polarisierenden Fragen sollten den Gesprächspaaren eine Einschätzung der politischen Haltung des Gegenübers ermöglichen. Im Schnitt liegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei drei Fragen auseinander. Länderübergreifend polarisiert am meisten die Frage, ob Europa engere Beziehungen zu Russland pflegen sollte. Am meisten Einigkeit herrscht bei der Frage, ob die EU das Leben ihrer Einwohner verbessert hat. Im Folgenden sehen Sie die Detailauswertung zu allen Fragen inklusive der Auswertung für ganz Europa. Dem gegenübergestellt haben wir die österreichischen Ergebnisse sowie jene Länder, die bei den Antworten am weitesten auseinanderliegen:

Mehr als 80 Prozent der befragten Österreicher würden einen europäischen Pass annehmen. Im Nicht-EU-Land Norwegen spaltet dieser Gedanke die Geister.

Verbessert die EU Ihr Leben? Nein, sagen mit knapper Mehrheit die von der Finanzkrise und langjährigen Sparpaketen gebeutelten griechischen Teilnehmer.

Braucht es strengere Grenzkontrollen? Ein ganz klares Nein dazu kommt von den slowakischen Befragten.

Gibt es zu viele Migranten? Laut zwei Dritteln der teilnehmenden Letten schon. Die deutschen Teilnehmer sehen das anders.

Sollte Europa engere Beziehungen zu Russland haben? Zu dieser Frage sollten sich speziell Griechen und Tschechen an einen Tisch setzen, wie aus der Befragung hervorgeht.

Große Einigkeit herrscht bei der Frage, ob reichere Länder ärmere unterstützen sollen. Ja, lautet der europaweite Konsens unter den Teilnehmenden. Nur Finnland tritt hier etwas aus der Reihe.

Mehr als 80 Prozent der britischen Diskutanten würden höhere Steuern auf Benzin befürworten, um den Klimawandel zu bekämpfen. Bei den lettischen Partizipanten stößt der Vorschlag mehrheitlich auf Ablehnung.

Viel Gesprächsstoff

Wie man sieht, gibt es in jedem Fall reichlich Themen zu diskutieren – und Fragen, die weit über die hier angeschnittenen Felder hinausgehen. "Europa spricht" ist letztlich ein Versuch, jene gesellschaftlichen Bruchlinien zu überwinden, die Europäerinnen und Europäer unterschiedlichster Herkunft und Lebenssituation heute trennen. Mehr als 17.000 Menschen nutzen die Chance, am 11. Mai auf Augenhöhe miteinander zu diskutieren – abseits medialer Debatten und jeweiliger Parteilager.

Video: So funktioniert "Europa spricht".
DER STANDARD

DER STANDARD wünscht in diesem Sinne schon jetzt allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern angeregte Debatten. Und wir laden Sie ein, uns und unseren Leserinnen und Lesern in anschließenden Erfahrungsberichten zu schildern, wie es war, jemanden mit konträren Ansichten kennenzulernen. Zu welchen Erkenntnissen ist man gelangt? Konnte man einander gedanklich näherkommen, oder ist man im Streit auseinandergegangen? Eine Auswahl der spannendsten Userbeiträge sowie redaktionelle Berichte werden online und in der Zeitung veröffentlicht. (Zsolt Wilhelm, 24.4.2019)