Schulung im Namen der Ehre

Kushtrim (li.) und Olfat sind Helden – genauer "Heroes". Sie halten gemeinsam mit einem Gruppenleiter Workshops zum Thema Ehre in Schulen.
Foto: Matthias Cremer

Wien – Kurz vor dem Ende ist es wieder sehr leise in dem Klassenraum in Wien-Landstraße. Faraz Leilabadi, der Workshopleiter, zeichnet mit Kreide eine Pyramide an die Tafel. In der Spitze steht das Wort "Mord".

Leilabadi ist Gruppenleiter der "Heroes", eines Projekts des Vereins für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark, das sich an junge Männer aus sogenannten Ehrenkulturen richtet und sich für ein gleichberechtigtes Zusammenleben einsetzt. Im Zuge der Initiative werden Burschen zu Heroes – zu Deutsch Helden – ausgebildet. Später halten sie mit einem Leiter selbst Workshops, wie diesen im Schulzentrum Ungargasse, und sprechen mit Schülern und Schülerinnen über das Thema Ehre und darüber, was Unterdrückung in ihrem Namen bedeutet.

Der Gipfel dessen, was bei missbräuchlicher Verwendung des Begriffs passieren kann, sei der Ehrenmord, erzählt Leilabadi jenen 21 Jugendlichen, die sich im Sesselkreis eingefunden haben. Die Schüler, die wenig vorher noch lautstark ihre Gefühle preisgegeben haben, schweigen jetzt. Sie wirken überrascht und schockiert, dass es so etwas überhaupt gibt.

Schwierige Begriffsdefinition

Zwischen 14 und 16 Jahren sind die Teilnehmer alt. Eindeutige Definition für das Wort "Ehre" finden die Teenager keine. Respekt, Selbstlosigkeit oder Hilfsbereitschaft: Versuche, den schwierigen Begriff zu umschreiben. Ehrenlos seien hingegen etwa Frauenfeindlichkeit, jemanden zu verraten oder zu lügen, findet die Klasse einige Beispiele.

Warum die Jugendlichen sich mit Ehre auseinandersetzen? "In traditionell-kollektivistisch geprägten Milieus steht die Familienehre an erster Stelle, ihr werden Bedürfnisse und Wünsche Einzelner untergeordnet", erklärt Heroes-Projektleiter Michael Kurzmann: "Die Angst der Familien vor Ehrverlust führt zu entsprechenden Kontroll- und Unterdrückungsmechanismen, die insbesondere Mädchen und Frauen treffen." Familienmitglieder würden sich daher zum Beispiel in die Kleidungswahl, Freundschaften, die Sexualität oder den Bildungsweg der jungen Frauen einmischen. "Auch junge Männer geraten unter Druck, da sie traditionell verpflichtet sind, den Ehrkodex durchzusetzen", sagt Kurzmann. Das Projekt setze bei Söhnen, Brüdern und künftigen Vätern an, um Veränderung in Familien und Communitys anzustoßen.

Stolz auf ehrenamtliche Arbeit

Neben Leilabadi stehen auch Olfat und Kushtrim vor der Klasse. Die beiden haben sich zu Heroes ausbilden lassen. Stolz tragen sie ihre grauen Kapuzenwesten. Die weiße Aufschrift auf dem Rücken bestätigt ihnen den Heldenstatus, ein Zertifikat haben sie ebenfalls erhalten. Der 19-jährige Olfat ist über einen Freund zu dem Projekt gekommen. "In unserem Alter werden diese Themen kaum besprochen. Lehrer reden nicht oft über Identität oder Ehre", sagt der gebürtige Afghane, der seit drei Jahren in Österreich lebt und derzeit die Abendschule in Graz besucht. Kushtrim war selbst erst Teilnehmer eines Workshops, bevor er die Ausbildung begann. Seine Eltern seien stolz auf die ehrenamtliche Arbeit des 17-jährigen Schülers, sagt er. Und: "Ich wünschte, man würde es nicht brauchen."

Auch theaterpädagogische Sequenzen seien zentral, erklärt Kurzmann. Olfat und Kushtrim führen eine vor: Vater und Mutter, gespielt von den jungen Männern, diskutieren über die Zukunft ihrer Tochter und darüber, ob sie ein Studium absolvieren oder lieber einen Ehemann finden solle.

Unfaire Entscheidungen für Töchter

Schauspieler werden die beiden zwar wohl nicht mehr, das Thema ist aber angekommen. Aus einem der Mädchen mit rotem Pulli, schwarzem Rock und Kopftuch brechen die Emotionen heraus: "Ich finde das so unfair. Mädchen sollten selbst entscheiden, was sie im Leben machen. Bildung ist wichtig, sie bringt ökonomische Unabhängigkeit." Die Klasse pflichtet ihr bei. Ein Mädchen mit hellen braunen Haaren und Wiener Dialekt sagt: "In meiner Familie muss die Tochter tun, was die Eltern sagen. Ich finde das nicht richtig. Ich würde mein Kind selbst entscheiden lassen." Leilabadi bekräftigt die jungen Frauen: "Es ist nicht in Ordnung, die ganze Last der Familie den Mädls auf die Schultern zu legen. Das ist schlicht ungerecht." Die Burschen halten sich eher zurück.

"Die Themen, die wir als Projekt Heroes ansprechen, werden großteils gut aufgenommen", sagt auch Kurzmann. Die Workshops, die vor allem in der Steiermark stattfinden, seien sehr beliebt. Finanzielle Unterstützung erhält das Projekt, das es seit 2017 gibt, etwa vom Land Steiermark und dem Integrationsministerium. Mittlerweile gibt es die Initiative in mehreren deutschen Städten, in Österreich gibt es sie auch in Salzburg.


Werken an der Stadt Wien

An Stationen zu diversen Themenkreisen können Kinder und Jugendliche im Rahmen der "Werkstadt Junges Wien" ihre Wünsche und Vorstellungen deponieren.
Foto: PID / Martin Votava

Der grüne Billardtisch mitten im Raum ist mit Packpapier umwickelt. Ein rotes Schild mit der Aufschrift "Sicherheit" zeigt das Thema dieser Station an. Darauf liegen orange Kreise aus Pappe und ausgeschnittene blaue Dreiecke. Es ist Abend, das Jugendzentrum in Wien-Simmering recht voll. Die Jugendlichen beschäftigen sich in Form von sogenannten Weltcafés mit Problemen in der Stadt und schreiben ihre Wünsche für die Zukunft auf. Mehr Polizei, mehr Kameras – allgemein mehr Sicherheit: Das ist es, was sich die 14- bis 19-jährigen Hauptstädter bei dem Workshop für die "Werkstadt Junges Wien" unter anderem wünschen.

Kinder und Jugendliche im Alter zwischen drei und 19 Jahren sind seit Februar im Rahmen des Demokratieprojekts der Stadt aufgerufen, ihre Ideen und Wünsche einzubringen. Die Ergebnisse der Workshops, die in Kindergärten, Schulen und Vereinen stattfinden, sollen als Grundlage für eine Wiener Kinder- und Jugendstrategie fungieren. Das Konzept, das in Form eines Werkzeugkoffers mit etwas kindlichen Materialien an Pädagogen verschickt wurde, kann je nach dem Alter der Teilnehmer abgewandelt werden.

Weniger Hausaufgaben und weniger Rassismus

In Simmering sitzt die 16-jährige Kathi neben der Computerecke auf einem bunten Sofa und führt durch die Ideen zu Bildung und Arbeit. Neben Schule erst ab neun Uhr und weniger Hausaufgaben werden auch ein sicherer Schulweg und bessere Mülltrennung gefordert. "Wir sind die Zukunft, es ist gut, dass wir sagen, was uns stört, und ernst genommen werden", findet sie. Über die Diskussion an ihrem Tisch war sie überrascht. Auf einem der Kärtchen wurde der Wunsch nach weniger Rassismus in der Arbeit geäußert. "Ich wusste nicht, dass es das noch gibt", sagt die Schülerin.

Der Prozess, den die Jugendlichen im Zentrum durchlaufen, sei "bemerkenswert", findet Hannes Bauer, der Leiter des Jugendzentrums. An sechs Tagen habe man mehr als 60 Teilnehmer gezählt. "Es ist bei uns anders als in der Schule. Als Jugendarbeiter müssen wir bei den Jugendlichen Lust erzeugen mitzumachen; niemand wird gezwungen. Diejenigen, die sich beteiligen, sind mit viel Herz dabei."

Hundezone und Fußballkäfig

Neben der Bar des Zentrums betreut Kudret den Stand zum Thema Freizeit. Die Jugendlichen haben schon vorab Fotos von der Umgebung gemacht und diese bewertet. "Der Platz da ist eigentlich cool, man könnte auch gut Fußball spielen", erklärt der 16-Jährige zu einem Bild eines Käfigs. Doch: "Er ist offen, da ist auch gleich die Hundezone. Sie wissen, was ich meine?" Es bräuchte einen Zaun, damit die Tiere draußen bleiben, befinden die Teenager. Kudret zeigt auf ein anderes Foto: "Der Spielplatz da ist einfach nur blöd, der bringt keinem was." Die Geräte seien veraltet und langweilig. So fad, dass Kudrets dreijährige Nichte keinen Spaß daran habe.

"Man kann nicht immer nur an sich denken. Die Großen müssen auf die Kleinen schauen", befindet er. Darum hat sich seine Gruppe auch um die Bedürfnisse anderer gekümmert. So kritisieren die Jugendlichen etwa zu enge Gehsteige, die für Kinderwagen zu wenig Platz bieten, oder den Zustand des Teichs am Leberberg. "Da braucht es eine Lösung, der ist vermüllt."

Wunsch nach Nahrungsaufnahme in der U-Bahn

Im Nebenraum wird hingegen der Wunsch nach mehr Öffis in Simmering diskutiert. Der 6er, der von der U-Bahn-Station zum Zentrum fährt, tue dies nur alle heiligen Zeiten, haben die Teenager das Gefühl. Beim Thema Verkehr steht auch ein spezieller Wunsch auf den Kärtchen: der nach einem Ende des Essverbots in den Wiener U-Bahn-Linien.

Rund 2000 Workshopkoffer hat die Stadt bereits verteilt. Wegen des großen Interesses musste schon nachgedruckt werden. Mit der Initiative sollen mindestens 10.000 Kinder und Jugendliche erreicht werden. Was aus den Plänen der Jugendlichen wird? "Es gibt ein Commitment der ganzen Stadtregierung zum Projekt", versichert Bildungs- und Jugendstadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ): "Es ist kein Spiel, sondern ein Recht für die Kinder- und Jugendlichen mitzubestimmen. Wir wollen Projekte aus allen Bereichen zur Umsetzung bringen." Daher sei die Werkstadt auch mit keinem eigenen Budget für Ideen ausgestattet; sie sollen mit bestehenden Mitteln finanziert werden.

Angst vor zu illusorischen Vorschlägen der Kinder und Jugendlichen hat Czernohorszky nicht. "Natürlich kam bei den ganz Kleinen auch der sprichwörtliche Wunsch nach Spielplätzen aus Schokolade", berichtet der Stadtrat, aber solche Ideen seien Einzelfälle. "Ab Sprachfähigkeit kann man mit den Kindern gut und sinnvoll arbeiten." Die Berichte aus den Workshops sollen bis zum Sommer evaluiert werden. (Oona Kroisleitner, 15.4.2019)