Nun geistert wieder das alte Foto herum, aufgenommen beim Gipfel der Arabischen Liga 2010 in Sirte, Muammar al-Gaddafis libyscher Hauptstadt: aufgefädelt in der ersten Reihe von links Tunesiens Präsident Zine el-Abidine Ben Ali, Jemens Ali Abdullah Saleh, Gaddafi, Ägyptens Hosni Mubarak, ahnungslos, dass ein paar Monate später der damals hoffnungsfroh sogenannte Arabische Frühling ausbricht. Er wird sie alle hinwegfegen (wobei bei Gaddafi die Nato mitgeholfen hat).
Rechts von ihnen, vorne, stehen noch zwei Männer: die Präsidenten Sudans und Algeriens, Omar al-Bashir und Abdelaziz Bouteflika. Sie gingen noch in die Verlängerung bis zum Frühjahr 2019. Auch ihr Abschied war nicht freiwillig: Beide wurden durch Massendemonstrationen gestürzt.
Manche Kommentatoren wollen nun einen "Arabischen Frühling 2.0" sehen. Erleben die arabischen Volkserhebungen, die nur in Tunesien zu einem halbwegs erfolgreichen Übergang in ein anderes System geführt haben, tatsächlich ihre Fortsetzung? Ja und nein – es gibt Parallelen und Unterschiede.
Proteste sind der leichteste Teil
Dass die Menschen im Nahen Osten und in Nordafrika nach Freiheit, Würde, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Demokratie streben, ist nichts, was erst 2011 begonnen hat – und natürlich war dort auch nicht Schluss. In Algerien und im Sudan wurde 2011 demonstriert, wie in anderen arabischen Ländern, in denen es ebenfalls nicht zu Umstürzen kam. An Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen sah man jedoch, dass es prinzipiell möglich ist, mit friedlichen Protesten Diktatoren loszuwerden. Aber bald war klar, dass das der leichteste Teil der Übung ist.
Dass die heutige Herangehensweise von diesen Erfahrungen geprägt ist, zeigt ein Slogan der aktuellen Proteste im Sudan. Er lautet: "Entweder Sieg oder Ägypten". Die Naivität, mit der nicht nur Demonstranten und Demonstrantinnen, sondern auch westliche Journalisten und Journalistinnen damals an die Sache herangingen, ist Geschichte: "Die Armee ist auf unserer Seite, die Armee schützt uns", hieß es damals. Vor dem System? Der Sicherheitsapparat ist das System; eines seiner Standbeine, Teil des mafiösen Günstlingskapitalismus, der Politik und Wirtschaft kontrolliert.
Es kann auch schiefgehen
In Algerien und im Sudan ging deshalb kaum jemand nach Hause, nachdem die Präsidenten gestürzt waren: Die Protestierenden verlangen einen nachhaltigen Systemwechsel. Daran, dass auch die Militärs so etwas wollen, glaubt kaum jemand.
Und auch wenn der Übergang zu einer zivilen Führung gelingt, kann noch alles schiefgehen. Ägypten ist das beste Beispiel dafür: Die Armee hat mehr Macht denn je, und soeben wird jene Verfassungsänderung vorbereitet, die Abdelfattah al-Sisi, Feldmarschall auf Lebenszeit, bis 2030 den Verbleib im Amt ermöglicht. Dann wird man sehen. Und die Sudanesen haben das schon zweimal erlebt, 1964 und 1985, als sie ihre Militärdiktaturen loswurden – und ein paar Jahre danach war der nächste Autokrat da.
Noch viele andere Dinge haben die Demonstranten und Demonstrantinnen seit 2011 gelernt: die vorsichtigere Nutzung der sozialen Medien, die bessere Einbeziehung der Peripherie, dass es eine breitere Basis, eine bessere Organisation braucht. Aber auch die da oben haben dazugelernt.
Mehr als nur Beobachter
Am deutlichsten gilt das für die neue moderne Autokratenklasse, in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), wozu aber auch Sisi in gewisser Weise zählt. Als 2011 der Arabische Frühling ausbrach, war König Abdullah alt und krank und nicht sofort handlungsfähig: Nachdem die USA 2011 Mubarak fallenließen, bot der König ihm Asyl an (das er nicht annahm, anders als Ben Ali) und zog sich ansonsten beleidigt zurück. Der "Fehler" wurde erst 2013 durch den von Riad betriebenen Sturz des Muslimbruderpräsidenten Mohammed Morsi korrigiert. Saudi-Arabien und seine Verbündeten sahen das alles aber nicht nur aus innenpolitischer Sicht: Sie fürchteten, dass der Hauptprofiteur der Umstürze der Iran sei.
Heute sind Saudi-Arabien und die VAE viel mehr als nur Beobachter, sie sind proaktiv und viel flexibler als 2011: Obwohl Omar al-Bashir vor kurzem noch ihr Verbündeter war, boten sie nach seinem Verschwinden von der Bildfläche den Neuen an der Macht sofort ihre Hilfe an. Sie wollen weiter im Spiel bleiben. Algerien, über dessen eigenständige Linie – etwa in Sachen Syrien – sich Riad oft ärgerte, ist ein schwieriger Fall. Ein riesiges und wirtschaftlich wichtiges Land, vor dessen Destabilisierung sich jeder fürchtet. Es gibt die Theorie, dass Riads plötzliche massive Unterstützung der Offensive von General Khalifa Haftar in Westlibyen damit zusammenhängt: Wenn in dem einen Land die Ordnung untergeht, soll sie woanders hergestellt werden. Die Ordnung, wie sie sie verstehen. Aber es klappt ohnehin nicht. (Gudrun Harrer, 16.4.2019)