Gestern Abend genoss ich mein bevorzugtes Gemütlichkeitsprogramm: im Bett herumlümmeln, fernsehen und essen. Ich glaube, ich hatte auch schon den Pyjama an. Plötzlich läutete mein Mobiltelefon. Aus irgendeinem Grund war das Ding auf "laut" geschaltet.

Ich erschrak über den von mir gewählten Klingelton. Noch mehr erschrak ich allerdings über den bedrohlich blinkenden Namen auf dem Display: Rudi Doppler war dran, ein Mann, der mich vor vier Monaten gefragt hatte, ob er sich mal melden dürfe. Besagter Rudi hatte es letzten Dezember eine charmante Idee gefunden, mit mir auf einen Drink zu gehen. Jetzt, Ende April, war er offenbar so weit – Rudi Doppler rief einfach so, ganz ohne Umschweife, um 20 Uhr an.

"Wie ordinär ist das denn?!", dachte ich entsetzt und drückte den frechen Anrufer weg. Denn, seien wir ehrlich: Im Zeitalter von Instagram-Storys und Snapchat-Videos, welcher ernst zu nehmende Mensch versteht da unter erster Kontaktaufnahme noch das analoge Sprechen in ein Telefon? Man kennt sie, die zarten Likes, die streng kuratierten Bildbotschaften über Whatsapp – und irgendwann dann das erste verschämte SMS. Aber das? Sorry Rudi, so viel Risikobereitschaft ist man im modernen Flirtbusiness nicht mehr gewohnt.

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Wer versteht unter erster Kontaktaufnahme das analoge Sprechen in ein Telefon?
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Kavalier der alten Schule

Ratlos rief ich meinen Freund, den Modefotografen, an. Ich schilderte ihm den problematischen Fall. "Hm, schwierig", kicherte er ins Telefon. "Hier scheint es sich wohl um einen Kavalier der alten Schule zu handeln." Dann erzählte er mir, dass er gerade ähnlich Schlimmes durchmachte: Bei seinem letzten Flug von Zürich nach Wien saß er neben einer sehr attraktiven, interessanten Frau.

Beflügelt tauschten die beiden Kontaktdaten aus. Sechs Stunden später, mein Freund hatte es sich inzwischen zu Hause gemütlich gemacht, lag vor dem Tatort, geschah das Unglaubliche: Die Frau rief an. Sie sagte, dass es sie gefreut hätte, ihn kennenzulernen, und fragte, ob er Lust hätte, sie wiederzusehen.

"Seit diesem Zuruf stehe ich unter Schockstarre", erklärte mein Freund. "Eine so unverblümte Ansage treibt einem verständlicherweise den Angstschweiß auf die Stirn."

Intimitäten

Da stellt sich natürlich die Frage: Seit wann ist die private Telefonie eigentlich so intim wie eine Nassrasur geworden? Einfach anrufen, das kommt heute so, als wäre man früher ungefragt mit einem Blumenstrauß vor der Tür gestanden.

Liebe Sachbuchautoren und Seminar-Veranstalter, ich sehe da eine riesige Marktlücke. Titel: "Telefonieren – die neue Direktheit. Bei Anruf weißt du, woran du bist."

Und irgendwann im nächsten Winter sehe ich auch wieder Chancen für Rudi. (Ela Angerer, RONDO, 25.4.2019)