Kaum fertig geworden, hatte das neue New Yorker Wahrzeichen "Vessel" auch schon einen Haufen Spitznamen abbekommen. Das Spektrum der mehr oder weniger bösen Bemerkungen der Kritiker reicht von Bienenwabe und Kiefernzapfen über Mistkübel bis hin zu einem überdimensionalen, mit glänzendem Kupfer überzogenen Kebabspieß.

"Neue Symbole polarisieren immer", sagt der hagere Herr mit Lockenkopf und Dreitagesbart. "Aber ehrlich gesagt, stört mich das nicht. Denn im Universum gibt es nicht nur Bedarf nach Nützlichkeit und Funktionalität, sondern auch nach Orten, die ihren eigenen Geist, ihre ganz eigene Persönlichkeit haben. Und das Vessel ist so ein Ort. Es ist eine Landmark. Es ist ein öffentliches Objekt, das für jeden frei zugänglich ist. Und es ist ein neuer, noch nie da gewesener Treffpunkt für New Yorker und Besucher aus aller Welt."

1991 war der Londoner Thomas Heatherwick das erste Mal zu Besuch in New York. Seit damals, erzählt der 49-Jährige, habe er der Sim-City am Hudson beim Wachsen zugesehen. Vor einigen Jahren schließlich kam der Auftrag, auf den neuen Hudson Yards zwischen 30. und 34. Straße eine öffentlich zugängliche Sehenswürdigkeit zu entwerfen.

2.500 Stufen auf dem Weg nach oben: Auf den Hudson Yards in New York wurde im Frühling Thomas Heatherwicks "Vessel" fertiggestellt. Die knapp 50 Meter hohe Stiegenskulptur, die an der Unterseite mit hochglänzenden, kupferfarbenen Stahlplatten verkleidet wurde, ist öffentlich zugänglich.
Foto: Michael Moran for Related-Oxford

Bei den Hudson Yards im Westen Manhattans handelt es sich nicht nur um die Überbauung der in die Pennsylvania Station hineinführenden Gleisanlage, sondern auch um das größte private Innenstadtinvestment seit der Errichtung des Rockefeller Center in den Jahren 1931 bis 1940. Das Gesamtinvestitionsvolumen der Gleisüberbauung beläuft sich auf mehr als 25 Milliarden US-Dollar, rund 22 Milliarden Euro.

Pendlerzüge

Ins Zentrum des neuen Stadtverdichtungsareals, umzingelt von hochpreisigen Wohn- und Office-Türmen, setzte Heatherwick eine begehbare Stiegenskulptur, die wie ein löchriger Blumentopf zwischen spiegelnden Glasfassaden in den Himmel ragt.

Während ein paar Etagen tiefer die silbernen Pendlerzüge hin- und herfahren, um wenige Sekunden später unter dem Hudson River zu verschwinden, ist im Vessel Fußmarsch angesagt: 2.500 Stufen, verteilt auf 80 Zwischenpodeste und mehr als 150 Stiegenläufe, bringen die Besucher auf tausenderlei unterschiedlichen Wegen bis zum allerhöchsten Punkt in fast 50 Metern Höhe. Über einen Lift kann man den Turm auch barrierefrei erklimmen.

Das "Vessel" ist das neue Wahrzeichen des Stadtverdichtungsareals Hudson Yards – einst Gleisanlage neben der Penn Station, heute eines der teuersten Wohn- und Büroviertel Manhattans.
Foto: Michael Moran for Related-Oxford

Vorbild für die Treppenkonstruktion, erzählt Heatherwick, der sich selbst als Designer bezeichnet und Journalisten und Fotografen stets korrigiert, wenn sie ihn als Architekten ansprechen, sei der Stufenbrunnen Chand Baori im indischen Rajasthan gewesen.

Auf unzähligen Treppensegmenten kann man dort so lange in die Tiefe hinabklettern, bis man die je nach Jahreszeit und Witterung schwankende Wasseroberfläche erreicht. "Ich habe mir überlegt, ob man diese Idee übernehmen und stattdessen nach oben entwickeln kann. Das Resultat ist, wenn man so will, eine Art Amphitheater. Mittelpunkt und Bühne dieses Amphitheaters ist das städtische Leben – du und ich und wir alle."

In den Fachmedien wird das 200 Millionen US-Dollar (178 Millionen Euro) teure Objekt kritisch beäugt. Während die Zeitungen im Vessel u. a. eine Neuinterpretation des Pariser Eiffelturms sehen, ziehen viele Blogs und Architekturmagazine in Zweifel, ob die Stufen, die ins Nirgendwo führen, in irgendeiner gesellschaftlichen Relation stünden.

Kate Wagner, die den Blog McMansionHell betreibt und darauf die hässlichsten, misslungensten Häuser und Bauwerke präsentiert, bezeichnet das Vessel als "sheer shittiness", als "reinste Beschissenheit".

Unter dem Titel "Fuck the Vessel" schreibt sie: "Das Vessel ist nichts anderes als ein Betrug am öffentlichen Leben. Es ist ein Werkzeug für digitale Arbeit. Indem die Menschen darin Fotos und Selfies schießen und in den sozialen Netzwerken posten, machen sie unbezahlte Werbung für das privatwirtschaftlich entwickelte Immobilienprojekt Hudson Yards."

Doppeldeckerbus

Nein, nein, nein. Das sehe er nicht so, sagt Thomas Heatherwick, der als Kind eigentlich Erfindertum studieren wollte, ehe er einsah, dass das Unisystem eine solche Ausbildung nicht abdeckt, und daher zwei Design-Studien absolvierte. "Das Vessel ist ein vielleicht verrückter, aber außergewöhnlicher Traum. Und genau darin zeichnet sich meine Arbeit aus. Wir alle wollen Gutes tun auf dieser Welt. Ich jedoch will das Beste machen."

Gin-Destillerie für Bombay Sapphire. Mitten in das historische Industrieanwesen in Hampshire setzte Thomas Heatherwick eine gläserne Skulptur, die sich wie ein durchsichtiges Grammophon über den Garten stülpt.
Foto: Mir

Und er meint es ernst. Während er sich in den ersten Jahren seines 1994 gegründeten Büros mit kleineren Aufträgen über Wasser halten musste, wird Thomas Heatherwick, der sich in King's Cross, London, niedergelassen hat, mittlerweile von Auftraggebern geradezu überrannt.

2010 entwarf er den britischen Pavillon für die World Expo in Schanghai, 2011 zeichnete er das neue Erscheinungsbild der Londoner Doppeldeckerbusse, 2013 baute er ein Learning-Hub auf dem Universitätscampus in Singapur, 2014 stellte er den Erweiterungsbau zur Gin-Destillerie Bombay Sapphire in Hampshire fertig, und 2016 wurde das Bund Finance Center in Schanghai in Betrieb genommen.

In Kapstadt wurde der 95 Jahre alte Weizensilo zum Zeitz MOCAA – Museum for Contemporary Art Africa umgebaut. In den oberen Etagen hat sich ein Luxushotel eingenistet.
Foto: Iwan Baan

Das bislang berühmteste und wohl meist publizierte Projekt aus dem Studio Heatherwick befindet sich in Kapstadt: In den alten Hafendocks im Nordwesten der Stadt wurde ein 95 Jahre alter Weizensilo in ein spektakuläres Museum umgebaut.

Das Zeitz MOCAA – Museum of Contemporary Art Africa wurde mithilfe von Diamantsägen in die alten Lagerräumlichkeiten sowie in die röhrenförmigen Betonsilos regelrecht hineingefräst. In den obersten Etagen der archaischen Betonskulptur befindet sich nun das Fünf-Sterne-Hotel The Silo mit 28 Zimmern und Suiten.

"Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dies das höchste Gebäude Subsahara-Afrikas", erklärt Heatherwick. "Wir haben dem unverwechselbaren Bauwerk kulturelles Leben eingehaucht. Es ist das erste große, bedeutende Museumsprojekt für afrikanische Kunst."

Im Inneren des Zeitz MOCAA dienen die aufgeschnittenen Betonsilos heute als dramatisch inszenierte Lobby und Galerie.
Foto: Iwan Baan

Das vielleicht schönste Projekt, die Garden-Bridge über die Themse, die mittels Crowdfunding errichtet werden sollte, musste mangels ausreichender Finanzierung auf Eis gelegt werden. Aktuell arbeitet Heatherwick, der sich immer noch als Designer versteht, obwohl seine Objektentwürfe zugunsten architektonischer und städtebaulicher Großprojekte mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt werden, am Google-Campus in Mountain View, Kalifornien, sowie am Megaprojekt "1.000 Trees" am Suzhou Creek in Schanghai.

Tausend Bäume für Schanghai. Im Wohn- und Office-Cluster "1.000 Trees" dienen die Säulenkapitelle als Pflanzentröge für Büsche und Bäume aller Art.
Foto & Rendering: Iwan Baan

Im Gegensatz zu herkömmlichen Gebäuden soll die tragende Säulenstruktur des 20-stöckigen Wohn- und Office-Komplexes bewusst nach außen gekehrt werden. Die rund tausend Säulenkapitelle dienen dabei als Pflanzentröge für Büsche und Bäume aller Art. Die Flora ist bereits gepflanzt.

In wenigen Monaten soll das Projekt übergeben werden. Damit leistet das Studio Heatherwick nicht nur einen ökologischen Beitrag für die dauergeplagte Smog-Metropole, sondern auch – wieder einmal – ein willkommenes Fotomotiv für Facebook, Pinterest und Instagram. (Wojciech Czaja, RONDO Open Haus, 20.8.2019)