Victor Hugos Roman "Notre-Dame de Paris" von 1831 ist ein absolutes Meisterwerk des romantischen Geschichtsromans mit brillanten historischen Detailschilderungen, unvergesslichen Charakteren, verblüffenden Schicksalswendungen, literarisch qualitätsvoll, aber ein "Reißer", ein Cliffhanger und Pageturner, mit einem unbarmherzigen Nicht-Happy-End (nur in der Disney-Zeichentrickverfilmung geht alles gut aus).

Letztlich ist die Hauptperson aber "diese Haupt-und Mutterkirche von Paris, eine Art Fabelwesen" (Victor Hugo). Sie verkörpert einen kulturell großartigen, zugleich aber beinahe beiläufig grausamen Katholizismus. Einerseits schildert Hugo die großartige kulturelle Leistung der Kirche und ihre Funktion als Asylort für staatliche Verfolgte. Andererseits müsste das ernste Pflichtbewusstsein, mit dem in dem Roman kirchliche Amtsträger diskutieren, dass sie leider ein bildschönes junges Mädchen der Folter unterziehen müssen, für etliche Kirchenaustritte gesorgt haben.

Die Anteilnahme am Schicksal von Notre-Dame beschränkt sich heute im säkularisierten Europa auf den möglichen Verlust eines kulturellen Kleinods. Oder doch nicht? Die angesichts des Brandes betenden und singenden Pariser, das gleichzeitige Glockenläuten in den großen europäischen Kathedralen am Tag danach, die echte Betroffenheit, die bei vielen zu bemerken ist – taucht da wieder ein Rest von Glauben an die eigene traditionelle Religion auf? Und zwar jenseits der antimuslimischen Verschwörungstheorien, die auf den Facebook-Seiten der üblichen Verdächtigen sofort ins Kraut schießen (mit Klarnamen übrigens).

Fundamente unserer Kultur

Die katholische Kirche und das Christentum überhaupt haben in Europa – im Unterschied zu den USA etwa – ihren Zugriff auf das öffentliche Leben und die Politik weitgehend verloren. Und das ist gut so, denn was es anrichten kann, wenn eine Religion sich anmaßt, alle Lebensbereiche zu dominieren, kann man am Islam sehen. Das ist unter anderem ein Rezept für fortwährende Rückständigkeit.

Aber das Christentum gehört nun einmal zu den Fundamenten unserer Kultur – wie die Antike und die Aufklärung. Als Religion der Vergebung, der Nächstenliebe, des Schutzes für die Schwachen hat es eine Funktion, gerade in Zeiten ziemlich hartherziger Politik gegen die Schwachen. Der österreichische Kardinal Christoph Schönborn findet zu einer immer kritischeren Sprache gegenüber unmenschlichen Maßnahmen einer Regierung, deren führender Teil theoretisch "christlich" sein sollte. An der "Basis" ist inzwischen erheblicher Unmut zu bemerken, dass Kanzler Sebastian Kurz sich diesen Kurs von der FPÖ vorschreiben lässt (oder selbst initiiert?). Kann es sein, dass sich wesentliche Teile der Christen in diesem Land auf diese Funktion ihres Glaubens besinnen?

Die Anteilnahme am Schicksal von Notre-Dame ist ein Zeichen, dass den Leuten die alte Religion anscheinend nicht völlig gleichgültig geworden ist; das könnte eine Chance für die christlichen Vertreter sein, relevanter zu werden. (Hans Rauscher, 16.4.2019)