Jack Ma, der exzentrische Milliardär, trat eine heftige Debatte los.

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Die jungen Männer, die vor dem Eingang des Pekinger Wohn- und Bürokomplexes Sanlitun warten, sind Mitte 20. Jeden Morgen rasen sie auf motorisierten Dreiradwagen in halsbrecherischem Tempo durch die Stadt, um ihre Pakete an Onlinebesteller zu liefern. Sie fahren für ein Dutzend Firmendienste wie Shunfeng, ZTO-Express oder Yunda. Über Handy rufen sie ihre Abnehmer an, damit diese zum Tor kommen. Für die könnte es kaum bequemer sein. Spätestens 24 Stunden nach ihrer Onlinebestellung ist die gewünschte Ware da. Dank Rabatten ist sie trotz Anlieferung billiger als in Kaufhäusern.

Im Jahr 2018 wurden in Chinas Digitalwirtschaft 50,7 Milliarden Pakete frei Haus ausgeliefert, 26,6 Prozent mehr als 2017 und mehr als alle Expressdienste in den USA, der EU und Japan zusammen ihren Kunden brachten. Der Boom hält an. Die Ausliefergruppe Yunda sucht über Plakatwerbung auf der Ladeklappe ihrer Dreiradkarren "20 neue Mitarbeiter" und verspricht "6.000 bis 13.000 Yuan (1.700 Euro) pro Monat. Essen und Unterkunft inklusive."

Das hört sich verlockend an. Doch ein Fahrer eines Expressdienstes, dessen Firma damit wirbt, innerhalb von 59 Minuten jeden Platz in Peking zu erreichen, sagte, er müsse "zehn, oft bis zu zwölf Stunden" am Tag arbeiten. Wenn er trotz Verkehrsstaus mindestens 150 Päckchen loswird, komme er pro Monat auf 6.000 bis 7.000 Yuan.

Heerscharen unterwegs

Ein Heer von drei Millionen motorisierten Dienstboten ist in China unterwegs. Das Magazin "Caixin" berichtet nach systematischen Befragungen in Schanghai, dass die meisten angeheuerten Wanderarbeiter es auf kaum 7.000 Yuan (925 Euro) pro Monat bringen, obwohl jeder Zweite täglich mehr als zehn Stunden arbeiten müsse.

Es ist Chinas moderne Form von Ausbeutung im Internetzeitalter, die Voraussetzung für seine digitale Revolution in den E-Kommerz-Dienstleistungen. Ohne sie würden die gigantischen Onlinekaufhäuser von Alibaba bis JD.com nicht existieren können. Das populistische Parteiblatt "Global Times" warnte erstmals vor wachsender Kritik "am teuflischen Wettbewerb, den nicht vorhandenen Arbeiterrechten und den Umweltproblemen", die mit dem Lieferunwesen verbunden sind.

Neues Problem

Die ausgebeuteten, oft nicht einmal versicherten Fahrer, sind nur der sichtbare Teil eines neuen Sozialproblems, das China seit Jahren unter der Decke hält. Millionen Angehörige der IT-Oberschichten, ob gut bezahlte Techniker, Programmierer oder Ingenieure in der Digitalwirtschaft, leiden ebenso wie die Ausfahrer unter gesetzeswidriger Behandlung und erzwungener Mehrarbeit. Für sie steht die spöttisch-böse Abkürzung "996icu", die hitzige Debatten provoziert. Denn 996 bedeutet, von neun Uhr früh bis neun Uhr abends, sechs Tage in der Woche arbeiten müssen. Und Icu steht für "intensive care unit", die Intensivstationen, in denen die Überarbeiteten dann eines Tages landen.

Chinas Arbeitsgesetz legt im Artikel 36 einen für alle geltenden Acht-Stunden-Arbeitstag fest beziehungsweise durchschnittlich 44 Arbeitsstunden pro Woche. Pro Tag sind bis zu drei Überstunden oder 36 im Monat erlaubt. Genau geregelt ist, wie sie bezahlt werden müssen.

Was 996 bedeutet

Nur halten sich zu viele nicht daran. Das dem Arbeitsrecht widersprechende, seit 2014 unauffällig praktizierte Überstundensystem 996 eskaliert zum öffentlichen Streitthema. Hintergrund ist auch Chinas wirtschaftliche Wachstumsschwäche. Sie zwingt immer mehr IT-Firmen, ihren Angestellten ungenügend bezahlte Mehrarbeit und Überstunden aufzubürden. Onlineplattformen wie Github.com machten den wachsenden Arbeitsdruck öffentlich. Spezialwebseiten rufen zum Schutz der Betroffenen auf.

Weil sich Softwareingenieure schamlos ausgenutzt fühlen, bezeichnen sie sich sarkastisch als "IT-Bauern". Einige machen mit selbstdesignten T-Shirts ihrem Unmut Luft und verkaufen sie auf Alibabas Taobao für jeweils 99 Yuan. Darauf steht "996: Von neun Uhr abends bis neun Uhr früh schlafen. Für den Sechs-Stunden-Arbeitstag".

Neue Unzufriedenheit

Doch die neue Unzufriedenheit über den Preis, den sie zahlen müssen, damit die digitale Wirtschaft über die Runden kommt, gärt unter den Massen junger Mitarbeiter. Solange niemand den Missbrauch der Arbeitszeiten anzeigt, kontrolliere auch der Staat sie nicht, kommentierte die Pekinger Handelszeitung "Beijing Shangbao". Chinas Haltung als "Nachzügler der wirtschaftlichen Entwicklung" zum 996-Problem sei "sehr unklar". Das könne nicht "ewig so bleiben".

Öl ins Feuer goß vergangene Woche Jack Ma, der Gründer von Chinas größtem IT-Konzern Alibaba. Er heizte die Debatte erst richtig an. In Mails und internen Reden verklärte er die überlangen erzwungenen Arbeitszeiten. Der 996-Modus sei doch ein "großes Glück". Viele würden gar nach dem "007"-System arbeiten wollen, also rund um die Uhr und sieben Tage in der Woche. Er zwinge niemanden, nach 996 zu arbeiten, erwarte aber totalen Einsatz seiner Mitarbeiter. "Wenn Du bei Alibaba dabei sein willst, musst Du bereit sein, zwölf Stunden pro Tag zu arbeiten. Sonst brauchst Du gar nicht erst anfangen." Andere Befürworter der Aufopferung ihrer Mitarbeiter für das eigene Unternehmen wie Richard Liu von JD.Com beschimpften alle, denen das nicht passe, als "faule" Zeitgenossen.

Scharfe Kritik

Exzentrischen Milliardären wie Ma, der, wie jüngst bekannt wurde, seit Jahren Mitglied von Chinas KP ist, schlägt nun scharfe Kritik entgegen. Pekings Handelszeitung kommentierte, er jongliere mit Begriffen wie "Glück" und verschnörkele, dass das Schema 996 weder "politisch noch rechtlich korrekt" ist. Er sollte mit seiner "Gehirnwäsche" aufhören. Ma konterte mit dem sonderbaren Vergleich, wonach wahre Liebe zur Arbeit wie das Buhlen um eine Frau sei. Dabei schaue niemand auf die Zeit.

Bisher griff Chinas Nomenklatura in die Debatte nicht ein, einer der Gründe, warum sie nicht zensiert wird. Selbst das Parteiorgan "Volkszeitung" rückte von Ma ab. Se warnte ihn, die berechtigte Kritik nicht zu diskreditieren, dass das Schema 996 Chinas Arbeitsrecht verletze. Die "Global Times" gestand einerseits ein, dass die Gesellschaft den Aufopferungsgeist von Unternehmern und Arbeitern brauche, die sich von langen Arbeitszeiten nicht abschrecken ließen. "Ohne diesen würde Chinas Wirtschaft sehr wahrscheinlich ihre Vitalität und ihren Schwung verlieren." Doch die "Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen darf sich nicht auf das rechtswidrige 996-Arbeitsschema stützen."

Billige Mehrarbeit

Ohne billige Mehrarbeit und Überstunden komme die digitale Wirtschaft auf keinen grünen Zweig. Für Zhu Ning vom Institut für Finanzforschung an der Universität Tsinghua aus ökonomischen Gründen: Im zu wenig innovativen und kreativen IT-Bereich nehme die Arbeitsproduktivität nicht so schnell zu, wie alle erwartet hatten. Die "Beijing News" sieht eine besondere Logik hinter 996. Wenn drei Angestellte Überstunden leisteten, "kann die Firma einen vierten Mitarbeiter einsparen", erklärte ihr ein Rechtsexperte eines Internetkonzerns.

Auffallend ist die völlige Abwesenheit der von der Partei gelenkten Gewerkschaften in der Debatte über die Mehrarbeitszeiten. Während das Thema 996 das Internet und sogar alle Printmedien umtreibt, findet sich auf ihrer Webseite zum Suchwort kein Eintrag. (Jonny Erling, 17.4.2019)