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Tausende Crowdworker lernen künstlicher Intelligenz das Laufen.

Illustration: getty images

Wenn wir bei Google Captchas lösen, trainieren wir gleichzeitig eine KI.

Screenshot: Google

Sie antwortet, wenn wir mit Alexa oder Siri sprechen. Sie erkennt unsere Gesichter auf Aufnahmen von Überwachungskameras, und womöglich wird sie bald unsere Autos steuern. Künstliche Intelligenz (KI) wird als epochaler Technologiesprung gehypt. Sie soll Menschen Arbeit abnehmen, langfristig viele Jobs ersetzen, dafür andere entstehen lassen. So stecken etwa hinter den monotonen Stimmen der Sprachassistenten meist tausende Stunden monotoner menschlicher Arbeit.

Wenn wir von künstlicher Intelligenz sprechen, dann meinen wir meist maschinelles Lernen. Statt einem Computer zu erklären, was ein Gesicht, eine Katze oder ein Fahrrad genau ausmacht, zeigen wir es ihm. Denn ein Großteil unseres Wissens ist implizit, das heißt: Wir können nicht genau erklären, warum wir bestimmte Dinge wissen, aber wir können es anwenden. Dieses Wissen können Machine-Learning-Modelle übernehmen, indem wir sie trainieren, etwa mit Beispielfotos von Gesichtern, Katzen und Fahrrädern füttern. Irgendwann erkennt ein Algorithmus selbst das Muster. Bis es so weit ist, braucht er aber zuverlässige Daten. Viele Daten.

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Wer Captchas löst, hilf Google

Viele dieser Daten geben wir kostenlos preis. Wir klicken bei Anmeldeformularen Straßenschilder, Autos und Geschäfte an, um zu beweisen, dass wir kein Roboter sind. Tatsächlich trainieren wir damit Roboter. Diese Daten verwendet beispielsweise Google, um seine selbstfahrenden Autos intelligenter zu machen. Wenn wir online Bewertungen als hilfreich markieren, unangemessene Inhalte auf sozialen Medien melden und Werbebanner anklicken – ununterbrochen generieren wir damit wertvolle Daten, die künstliche Intelligenzen verbessern.

Den Rest erledigen Heerscharen von sogenannten Clickworkern, Menschen, die online einfachste Aufgaben lösen und dafür mit Centbeträgen entlohnt werden. Die größte Plattform für solche Microjobs nennt sich Mechanical Turk und wird vom Versandgiganten Amazon betrieben, der selbst groß im KI-Geschäft ist.

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Bevor Maschinen Menschen erkennen können, müssen Menschen zuerst sehr viele Menschen per Hand nachzeichnen.
Foto: ap/Mark Schiefelbein

KI anno 1769

Der Mechanical Turk, englisch für Schachtürke, ist eigentlich eine österreichische Erfindung. Ein Beamter stellte 1769 eine Maschine vor, die angeblich selbstständig Schach spielen konnte. Tatsächlich versteckte sich in dem Gerät aber ein echter Schachspieler. So ist es auch bei der gleichnamigen Amazon-Plattform: Aufgaben, die eigentlich Computer bewältigen sollten, werden dort von Menschen erledigt. Artificial artificial intelligence – künstliche künstliche Intelligenz – lautete bis vor kurzem noch der Slogan von Mechanical Turks.

Anmelden kann sich jeder, der einen Amazon-Account hat, also auch ich. Danach warten Millionen sogenannter HITs – Human Intelligence Tasks – auf ihre Bearbeitung. Für drei Cent pro Bild soll ich bunte Rechtecke um Personen oder Fahrzeuge zeichnen, für die Transkription einer dreiminütigen Aufnahme bekommt man 35 Cent. Einen stolzen Cent bekomme ich, wenn ich animierte Gifs der richtigen Kategorie zuordne.

Hinter finnischen Gardinen

500.000 Personen sind bei der Plattform registriert, aktiv sind weit weniger. 2.000 sind es, die gerade zu jeder Tages- und Nachtzeit klicken sollen. Sie tun das für einen Hungerlohn: Mehr als die Hälfte der Mitglieder soll laut einer Studie des Pew Research Center weniger als fünf US-Dollar pro Stunde verdienen.

Nicht auf Mechanical Turks will sich Vainu verlassen. Das finnische Start-up bietet Berichte zu Unternehmen an. Dafür analysiert Vainu öffentlich verfügbare Daten, etwa Geschäftsberichte oder Artikel in Medien. Das geschehe zwar hauptsächlich automatisch, "momentan können unsere Algorithmen aber zum Beispiel nicht zwischen Apple als Obst und als Unternehmen unterscheiden", sagt der Geschäftsführer Tuomas Rasila zum STANDARD.

Keine Gewalt mit Tastaturen

Deshalb arbeiten neuerdings Häftlinge für Vainu. Wie viel sie genau verdienen, weiß Rasila nicht, da seine Firma die Gefängnisverwaltung und nicht die Insassen direkt bezahle. Es seien "ein paar hundert Euro" – mehr als auf der Amazon-Plattform, wo Vainu kaum finnischsprachige Arbeiter fand, aber immer noch Aufgaben einstellt. Das Gefängnis sei froh über den Deal, da Tastaturen weniger Gewaltrisiko als etwa Heckenscheren bergen.

Ist diese mental und motorisch anspruchslose Klickarbeit später am Arbeitsmarkt verwertbar? "Vielleicht kann man ein bisschen schneller lesen, wenn man entlassen wird", sagt Rasila. Doch er gesteht ein, dass die Arbeit eigentlich jeder, der lesen und schreiben kann, erledigen könnte. Ethische Bedenken sieht er nicht. Die Gig-Economy sei etwas, mit dem wir leben müssten. "Und was ist falsch daran, Menschen zu bezahlen, die freiwillig arbeiten?", fragt Rasila.

Denn im Gegensatz zu Österreich müssen Häftlinge in Finnland nicht arbeiten. Algorithmen werden in den österreichischen Gefängnissen übrigens nicht trainiert. Insassen üben grundsätzlich "klassische Lehrberufe" aus oder arbeiten als Systemerhalter in den Justizanstalten, teilt das Justizministerium auf STANDARD-Anfrage mit. Computer kommen nur als Lernmedium zum Einsatz.

Eins fünfzig pro Stunde

Eine Expertengruppe der EU hat kürzlich Ethikleitlinien zur Entwicklung vertrauenswürdiger künstlicher Intelligenz vorgestellt. Es geht vor allem um Privatsphäre, Datenschutz und Transparenz. Die Arbeitsbedingungen des digitalen Prekariats, das die KI trainiert, kommen nicht zur Sprache.

Nach einer Stunde beende ich meine Karriere als Clickworker. Auszahlen lassen kann ich mir meinen Lohn nur als Amazon-Gutschein. 90 Aufgaben habe ich in der Stunde geschafft. Dank mir ist irgendeine künstliche Intelligenz ein klein bisschen intelligenter geworden. Welche, das lässt sich nicht herausfinden. Vielleicht ist es Google, Facebook oder Amazon selbst, vielleicht ein Tech-Start-up, das mit seinen Technologien noch Millionen verdienen wird.

Ich habe jedenfalls 1,48 Euro verdient. (Philip Pramer, 20.4.2019)