Die Körperhaltung ändert sich jenseits der 50 wohl nicht mehr so schnell. Mit leicht hochgezogenen Schultern, dafür mit lässigem Schritt und wissendem Lächeln kommt Reinhold Mitterlehner zu seiner Buchpräsentation. Später wird der ehemalige Vizekanzler und ÖVP-Chef dem STANDARD ausführlich erklären, warum er unter die Autoren gegangen ist. Seinem Nachfolger Sebastian Kurz habe er noch kein Exemplar von "Haltung – Flagge zeigen in Leben und Politik" geschickt. Aus Zeitgründen.

Hat die Monate vor seinem Rücktritt im Mai 2017 in Buchform aufgearbeitet: Der frühere Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner. Sein Nachfolger Sebastian Kurz kommt dabei nicht allzu gut weg.
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STANDARD: Sie beschreiben detailliert die Intrigen in der Partei vor Ihrem Rücktritt. Hat es je eine Aussprache zwischen Ihnen und Sebastian Kurz gegeben?

Mitterlehner: Ja, wir haben uns mehrmals getroffen. Aber im Nachhinein ist das durch Gespräche nicht mehr reparierbar.

STANDARD: Hat er Ihnen dabei den Posten des Nationalbankpräsidenten angeboten?

Mitterlehner: Es gab dieses Angebot von ihm. Später hat er es dann umgekehrt dargestellt, aus fadenscheinigen Gründen wurde nichts daraus. Da habe ich mich ehrlich gesagt gepflanzt gefühlt.

STANDARD: Ein weiterer Wortbruch von Kurz?

Mitterlehner: Es hat jedenfalls unser Vertrauensverhältnis nicht stabilisiert.

STANDARD: Sie kritisieren, dass sich in der ÖVP alles um Macht- und Personalfragen dreht. Gleichzeitig waren Sie dem Posten nicht abgeneigt. Keine Diskrepanz für Sie?

Mitterlehner: Es hätte auch ein Signal für eine vertrauensvolle Entwicklung in der Partei sein können.

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STANDARD: Sie werfen Kurz vor, er habe die Rechten salonfähig gemacht. Wären Sie eine Koalition mit der FPÖ eingegangen?

Mitterlehner: Das möchte ich gar nicht mit Nein beantworten. Aber bei den Koalitionsverhandlungen hätte ich inhaltliche Grenzen gezogen. Die Verstaatlichung der Flüchtlingsbetreuung oder das Kippen des Nichtraucherschutzes wären rote Linien gewesen.

STANDARD: Wie glaubwürdig ist die Distanzierung der FPÖ von den Identitären für Sie?

Mitterlehner: Beide Regierungsparteien glauben anscheinend, dass das Problem gelöst wird, indem Mitgliedschaften oder Mietverträge beendet werden. Die zentrale Frage aber ist: Wo sind die inhaltlichen Überschneidungen mit der Politik der FPÖ? Auch die Freiheitlichen grenzen andere Kulturen und Religionen aus. Aber das traut sich niemand anzugreifen.

STANDARD: Was müsste der Kanzler tun?

Mitterlehner: Die Einstellung der Identitären findet sich ja auch bei der FPÖ, etwa wenn die Sozialministerin die neue Mindestsicherung unter dem Motto "Österreicher zuerst" verkauft. Aber der Kanzler weiß, was die FPÖ für ein Partner ist. Natürlich trägt er dann auch die Verantwortung, wenn er mit einer solchen Partei eine Koalition eingeht. Das Problem wird nicht durch eine Distanzierung gelöst. Man ist nur schnell zur Tagesordnung übergegangen, weil weder FPÖ noch ÖVP hier etwa gewinnen können.

STANDARD: Rechtspopulistische Tendenzen gab es auch, als Sie Vizekanzler waren: Stichwort Obergrenze für Flüchtlinge oder Grenzzaun in Spielfeld.

Mitterlehner: Dahinter stand keine Ideologie, das war der hohen Anzahl an Flüchtlingen geschuldet. Der Zaun war eine organisatorische Notbremse. Ich kenne Politiker, die wollten um ganz Österreich einen Grenzzaun ziehen. Die sitzen heute in der Regierung.

STANDARD: Der Zaun war doch ein Abwehrsymbol für die Bevölkerung.

Mitterlehner: Es war eine Überforderungssymbolik. Die anderen EU-Staaten sollten endlich solidarisch agieren und die Außengrenzen besser schützen. Für mich heißt das nicht, alle abzuweisen, die einen anderen Glauben haben, um uns vor ihnen zu schützen, wie das heute signalisiert wird.

STANDARD: Haben Sie hier dem damaligen Außenminister zu sehr das Feld überlassen?

Mitterlehner: Während wir uns mit organisatorischen Details abgemüht haben, hat Kurz erkannt, dass er damit politisch etwas gewinnen kann. Er hat die Stimmung in der Bevölkerung geortet, aber auch gesteuert, und einen restriktiven Kurs propagiert. Er suggeriert den Menschen, sie würden durch die Flüchtlingskrise etwas verlieren, wovor er sie bewahrt. So punktet er.

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STANDARD: Im Gegensatz zu Ihnen ist es Kurz gelungen, die Partei zu einen.

Mitterlehner: Es ist ihm gelungen, die Wahlen zu gewinnen. Die Volkspartei besteht in der alten Form weiter, er hat mit der neuen ÖVP nur eine Ebene darübergestellt, die Themen vorgibt. Das ist eine Hybridkonstellation. Ich bezweifle, dass das von Dauer ist. Die ÖVP ist eine Basispartei, ohne Rückkoppelung mit den Funktionären kommt man nicht lange durch.

STANDARD: Bis jetzt funktioniert es.

Mitterlehner: Weil die Umfragen gut sind. Die Frage ist, ob man so die Qualität der Politik messen kann. Wenn das der einzige Maßstab ist, bin ich schnell bei Orbán, Trump und Erdogan.

STANDARD: Warum trauen sich nicht mehr ÖVPler, Stellung zu beziehen?

Mitterlehner: Wer gegen das System antritt, bekommt die Macht der Partei zu spüren. Für die FPÖ ist überhaupt jede abweichende Meinung Verrat. Daher nehmen sich alle zurück. Das heißt nicht, dass sie mit den Inhalten einverstanden sind. Es wird nur keine Diskussion zugelassen. In der ÖVP herrscht ein restriktives Meinungsklima.

STANDARD: Sorgen Sie sich deshalb um die Demokratie?

Mitterlehner: Wenn keine anderen Meinungen zugelassen sind, entwickeln wir uns zu einer autoritären Demokratie.

STANDARD: In sechs Wochen wird das EU-Parlament gewählt. Wählen Sie noch ÖVP?

Mitterlehner: Aber ganz sicher. Othmar Karas ist der beste EU-Parlamentarier.

STANDARD: Was muss denn noch passieren, damit Sie sich von der ÖVP abwenden?

Mitterlehner: Die Frage habe ich mir gar nicht gestellt. Das werde ich von Wahl zu Wahl entscheiden. Aber ich bin Mitglied der Partei. Man kann ja da und dort unterschiedliche Meinungen haben.

STANDARD: Aber Sie vermissen doch Inhalte, das ist ja nichts Lapidares, oder?

Mitterlehner: Das Flüchtlingsthema wird einfach total überstrapaziert.

STANDARD: Also warum wählen Sie dann noch die ÖVP?

Mitterlehner: Weil sie die einzige christlich-soziale Partei ist, zumindest theoretisch.

STANDARD: Die Theorie reicht? Meldet sich da bei Ihnen die kaum enden wollende Parteiräson, von der Sie geschrieben haben, doch wieder zurück?

Mitterlehner: Die ÖVP muss wieder stärker in die Mitte rücken. Bei den Alternativen im Parteienspektrum sehe ich noch am ehesten bei den Neos das, was vernünftige, grundsatzorientierte liberale Politik ist. (Marie-Theres Egyed, Karin Riss, 18.4.2019)