Dick ist kein Schimpfwort, wenn man es nicht als solches betrachtet: Lizzo mag und zeigt ihre Kilos.

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Im Schatten des Musenbergs Helikon wandelte einst der Knabe Narcissus. Da er zu schön, zu jung, zu intelligent war, kam eigentlich niemand anderer als ebenbürtiger Partner für ihn infrage als er selbst. So arrangierten es die strafenden Götter, dass der arrogante Narziss sich in sein Spiegelbild verliebte und – Todesursache nicht restlos geklärt – starb. Hochmut kommt vor dem Fall, so die Moral der Geschichte.

Dieser Fingerzeig hat Melissa Viviane Jefferson aka Lizzo noch nicht erreicht. Wenn die 30-jährige Musikerin in den Spiegel schaut, entfährt ihr ein ganz unbescheidenes "Yeah I'm in love" (aus: Soulmate). Lizzos drittes Album strotzt vor unverfrorener Selbstliebe und üppigem Selbstlob. Es ist Hommage an und Persiflage auf alles, was an Mainstream-Pop immer großartig war und ist. Der energetischen Sängerin, Rapperin und Flötistin, wohnhaft in Minneapolis, wird damit der längst überfällige Durchbruch gelingen.

Den mythischen Narzissmusbegründer wider Willen und die sehr reale, willensstarke Popwucht Lizzo unterscheidet vieles – auch äußerlich. Er, ein normschöner Jüngling mit zu viel Tagesfreizeit, sie eine schwarze, dicke Frau, die keine Zeit zu verlieren hat. Lizzo hätte übrigens kein Problem mit dieser Beschreibung ihres Körpers.

Dick ist kein Schimpfwort

Dick ist kein Schimpfwort, wenn man es nicht als solches betrachtet, und muss auch nicht mit Wörtern wie "kurvig" oder "plus-size" umschrieben werden. Es ist auch kein Gegensatz zu schön, sexy oder begehrenswert. Ihren Körper stellt sie bewusst ins Zentrum ihrer Inszenierung, zeigt sich zum Beispiel nackt auf ihrem Albumcover, um die frohe Kunde der Body-Positivity unter die Leute zu bringen. Ein Thema, das auch auf ihrem Album eine zentrale Rolle spielt, das insgesamt stark um einen der Begriffe der Stunde, Empowerment, kreist.

Lizzo Music

Lizzo war bereits ermächtigt, als Empowerment zum Marketingsprech wurde. Alles, was sie auf ihrem Album erzählt, ist in seiner Übertriebenheit aufrichtig. Und: Sie hat Humor – von der derben Sorte. So ergeben sich witzige Gegensätze: Die erste Nummer auf dem gleichnamigen Album Cuz I Love You ist eine Pathosschnulze. Doch wo Amors Opfer normalerweise vor Sehnsucht nicht mehr schlafen können, ist Lizzo vor lauter Liebe die Lust am Herumhuren vergangen – ihre Worte.

Jede der elf Nummern, deren Melodien man bereits vor dem Hören auswendig kannte, ist ein Hit. Denn Lizzo macht überhaupt kein Hehl daraus, sich durch die Popgeschichte zu zitieren. Sie tut es nicht, ohne etwas hinzuzufügen. Juice könnte man diese geheime Zutat nennen. Die gleichnamige Vorabsingle ist jetzt schon der beste Popsong des Jahres und der ganzen 80er, denen er so unverhohlen huldigt. Seit langem wurde Chartmusik nicht mit so mitreißender Leidenschaft und humorvoller Ernsthaftigkeit exekutiert. Wie gesagt, Narziss und Lizzo unterscheidet vieles: Hochmut kommt bei ihr vor dem Erfolg. (Amira Ben Saoud, 19.4.2019)