Der Chef der Wiener Anwaltskammer, Michael Enzinger, kritisiert Gesetzesvorhaben und Gesetzeswerdung der türkis-blauen Regierung.

Foto: Regine Hendrich

Die Art, wie die Regierung Gesetzesvorhaben umsetzt, ist Michael Enzinger ein Dorn im Auge. Den Innenminister und seine Aussage, dass das Recht der Politik zu folgen habe und nicht umgekehrt, kritisiert der Kammerchef, der sich im Mai der Wiederwahl stellt, scharf.

STANDARD: Die Wiener Anwaltskammer wirbt damit, dass sich Anwälte "unermüdlich für Demokratie und Rechtsstaat einsetzen". Wie viel haben Sie da gerade zu tun?

Enzinger: In der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation sicher mehr als viele meiner Vorgänger. Denn die Themen sind aus rechtsstaatlicher Sicht heikler geworden, und der Kammerpräsident ist auch so etwas wie ein Mahner für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das Mahnen war vor zehn Jahren in dieser Dichte nicht notwendig.

STANDARD: Warum ist es das jetzt?

Enzinger: Weil die Politik bei vielen Themen an die Grenzen und über die Grenzen des Zulässigen hinausgeht. Da muss man den Finger heben, deutlicher als zuletzt.

STANDARD: Sie sprechen die türkis-blaue Regierung an, die seit 2017 im Amt ist?

Enzinger: Ja. In der Zeit der rot-schwarzen Koalition standen diese Themen nicht laufend auf der Agenda.

STANDARD: Wo geht die Regierung über die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit hinaus?

Enzinger: Etwa bei der geplanten Sicherheitsverwahrung beziehungsweise Sicherungshaft. Unsere Verfassung lässt so etwas mit Sicherheit nicht zu. Und nicht alles, was europarechtlich möglich wäre, muss man in Österreich per Verfassungsänderung umsetzen. Unsere Verfassung ist auch dazu da, dem einfachen Gesetzgeber Grenzen zu setzen. Diese Grenze ist bei der Sicherungshaft erreicht.

STANDARD: Die Idee zur Sicherungshaft kam nach dem Fall des Beamten in Vorarlberg, der von einem vorbestraften und illegal eingereisten Asylwerber getötet worden sein soll. Die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), Brigitte Bierlein, sprach sich jüngst strikt gegen Anlassgesetzgebung aus. Sehen Sie es auch so?

Enzinger: Ich bin ein strikter Gegner von Anlassgesetzgebung. Der Fall mit dem Beamten ist ein tragischer Einzelfall, daran soll man keine Gesetze aufhängen. Und es ist absolut unvorstellbar, dass ein Verwaltungsgericht über die Verhängung von Verwahrungshaft entscheidet. Das würde das Rechtsgefüge komplett zerstören. Auch Untersuchungshaft darf nur über Antrag der Staatsanwaltschaft, die interner Kontrolle unterliegt, und mit Zustimmung eines unabhängigen Strafrichters verhängt werden, da gibt es klare, strenge Vorgaben. Zudem sind Gefährlichkeitsprognosen eine Aufgabe für Mediziner und nicht für Richter. Wie wir bei der Beurteilung geistig abnormer Rechtsbrecher sehen, irren da auch medizinische Kapazitäten immer wieder. Schon Justizminister Wolfgang Brandstetter wollte dieses massive Problem angehen, es ist aber immer noch ungelöst.

STANDARD: Brandstetter wird dann vielleicht als VfGH-Richter über die Sicherungshaft mitentscheiden können ...

Enzinger: Glaube ich nicht, da würde er sich aus der Entscheidungsfindung sicher zurückziehen.

STANDARD: Wie klug ist es, wenn Exregierungsmitglieder VfGH-Richter werden?

Enzinger: Es ist zulässig, aber die Optik ist nicht gut.

STANDARD: Sollte die Sicherungshaft kommen: Gehen die Anwälte auf die Barrikaden?

Enzinger: Wenn das mit einer Verfassungsmehrheit geschieht, wäre die Entscheidung fast unangreifbar. Wir können als Kammer leider keine direkte Verfassungsbeschwerde einlegen, hätten dieses Recht aber gern.

STANDARD: Die Regierung legt auch immer weniger Gesetzesentwürfe zur Begutachtung vor. Laut Wahrnehmungsbericht der Österreichischen Anwaltskammer 2017/18 gehen mitunter sogar Verfassungsänderungen ohne Begutachtung ins Parlament. In fast einem Drittel der Fälle, in denen es noch eine Begutachtung gibt, beträgt die Frist dafür nur zwei Wochen oder weniger. Wie beurteilen Sie diese Einschränkungen?

Enzinger: Auch das ist der Zug der Zeit geworden. Es kann mir niemand erzählen, dass es Gesetzesvorhaben gibt, die so dringlich wären, dass man innerhalb von 14 Tagen oder vier Wochen das gesamte Gesetzwerdungsprozedere durchziehen muss. Da geht es ja nicht um Nebensächliches, sondern um Themen, die neben einer Begutachtung durch die Betroffenen einer breiten politischen und öffentlichen Diskussion bedürfen. Diese Debatten und Auseinandersetzung mit Themen haben immer wieder bewirkt, dass Gesetzen die Giftzähne gezogen wurden.

STANDARD: Warum scheut die Regierung Begutachtungen und Diskussionen?

Enzinger: Sie geht den Weg des geringeren Widerstands.

STANDARD: Wird da gerade der Staat, der Rechtsstaat umgebaut?

Enzinger: Der Rechtsstaat kann in Österreich nicht so schnell umgebaut werden. Und dass der Staat umgefärbt wird bei Regierungswechseln, das war immer so. Das ist Teil unserer politischen Kultur und nicht per se schlecht. Und ob der Staat umgebaut wird? Da ist die Verfassung davor.

STANDARD: In welchen Bereichen geht die Regierung Ihrer Ansicht nach an die Grenzen des Rechtsstaatlichen?

Enzinger: Zum Beispiel bei der Deanonymisierung im Netz. Es ist berechtigtes Anliegen einer Gesellschaft, dass man nicht anonym im Netz Anschuldigungen erheben darf. Es ist legitim, dass man in solchen Fällen versucht, dem Täter auf die Spur zu kommen. Es geht aber darum, auf welche Art und Weise man das macht. Es gibt Grenzen, die von den Grundrechten gezogen werden und die derzeitige Verfassungs- und Rechtsordnung erlaubt die geplante automatische Speicherung von Daten im Hintergrund eben nicht. Vorratsdatenspeicherung ist einfach nicht erlaubt.

STANDARD: Die Regierung begründet diese und viele andere ihrer gesetzlichen Initiativen mit der Erhöhung der Sicherheit. Ist die Sicherheit in Österreich gefährdet?

Enzinger: Nein. Den absolut sicheren Staat gibt es nicht, der ist Utopie. Auch Überwachungspakete oder Datenspeicherung können Verbrechen nicht systematisch verhindern, sicherer machen sie einen Staat nicht. Aber ein großer Teil der Bevölkerung fühlt sich durch derartige Maßnahmen angesprochen und wohler. Es wäre aber eben die Verantwortung der Politiker, mit solchen Wünschen der Bevölkerung verantwortungsvoll umzugehen. Wie unverantwortlich und populistisch Politik damit umgeht, erleben wir gerade in Großbritannien und der EU. Wir alle sind die Leidtragenden.

STANDARD: Der Innenminister sagt: "Das Recht hat der Politik zu folgen und nicht umgekehrt." Was sagen Sie dazu?

Enzinger: So etwas zu sagen, steht einem Innenminister nicht zu. Er macht das Recht nicht, das Recht wird vom Nationalrat gestaltet. Als oberstes Exekutivorgan hat der Innenminister das Recht zu vollziehen. (Renate Graber, 19.4.2019)