Der haushohe Sieg des 41-jährigen Schauspielers und erfolgreichen Theaterunternehmens Wolodymir Selenski in der zweiten Runde der Präsidentenwahl ist in mehrfacher Hinsicht historisch: Mit ihm, dem sechsten Präsidenten seit der Unabhängigkeit, übernimmt in einem großen Land, das unter einem langen Krieg und extremer Armut leidet, erstmals ein Mann ohne jedwede Regierungserfahrung das Amt des Staatsoberhauptes.

Zugleich weist der jüngste Präsident der ukrainischen Geschichte mit 73 Prozent das höchste Ergebnis auf, das je ein Kandidat bei einer freien Wahl erreicht hat. Präsident Petro Poroschenko, mit einem auf 1,6 Milliarden Dollar geschätzten Vermögen als Symbol des alten, korrupten Systems angesehen, hat eine massive Niederlage erlitten. In drei Wochen konnte der führende Selenski bei der Stichwahl seinen Stimmenanteil um 43 Prozent erhöhen.

Was kann dieses Land nach der Annektierung der Krim durch Russland und nach über 13.000 Todesopfern bei den Kämpfen um die von Russland kontrollierten Ostregionen Donezk und Lugansk von einem derart unerfahrenen Präsidenten erwarten? Poroschenko hatte immerhin konsequent einen Westkurs Richtung EU und Nato gesteuert. Eine Kommunalreform, die Abschaffung der Visapflicht bei Westreisen und eine gewisse Konsolidierung der Armee werden selbst von Kritikern als Pluspunkte betrachtet.

Kein Wunder, dass angesehene Schriftsteller und andere Intellektuelle den Sieg des Komikers haarsträubend finden. Darüber hinaus wird ihm ein gefährliches Nahverhältnis zu dem seit 2016 in Israel lebenden steinreichen Oligarchen, Ihor Kolomojskij unterstellt. Dessen TV-Sender strahlte die populäre Serie Diener des Volkes aus, in der Selenski den fiktiven Präsidenten gespielt hatte. Der Oligarch will auch die Verstaatlichung seiner "Privatbank" rückgängig machen.

Die freie Wahl erbrachte ein überwältigendes Votum gegen die grassierende Korruption als Kennzeichen der Präsidentschaft Poroschenkos. Das Staatsoberhaupt ist Oberbefehlshaber der Armee und kann den Außen- und Verteidigungsminister, den Oberstaatsanwalt und den Geheimdienstchef bestimmen und dem Parlament vorschlagen. Die Weichen werden aber endgültig bei der Parlamentswahl im Herbst gestellt. Am prowestlichen Kurs und an der Verteidigungsbereitschaft dürfte sich nichts ändern. Hinter der Fassade eines echten Schauspielers auf der politischen Bühne zeichnet sich eine neue Machtbalance innerhalb des "oligarchenfinanzierten Pluralismus" (NZZ) ab. Bisher haben eine Handvoll Oligarchen und ihre Handlanger das politische Geschehen geprägt.

Dieses labile System garantiert zwar keinen Rechtsstaat und keine Gewaltentrennung, ist aber doch meilenweit vom Putin-Regime oder von der verschleierten Einmannherrschaft eines Orbáns entfernt. Für die Zukunft des eigenen Landes gilt allerdings auch der Zuruf Selenskis an die Menschen in anderen früheren Sowjetrepubliken: "Schaut auf uns! Alles ist möglich!" (Paul Lendvai, 22.4.2019)