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Die meisten Filme, Dokus und Radiosendungen transportieren ihre Inhalte auch über Musik.

Foto: Getty/mgkaya

Lange waren es vor allem die großen Komponisten und ihre genialen Werke, mit denen sich die Musikgeschichte beschäftigt hat. Als wesentlicher Teil unseres kulturellen Erbes wirkt Musik aber auch jenseits der großen Heldenerzählungen bedeutungsstiftend und ist eng mit den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Vorgängen verwoben. "Musik ist in die unterschiedlichsten Kontexte eingeschrieben und ihre Geschichte nicht ausnahmslos chronologisch verständlich", sagt Cornelia Szabó-Knotik, Professorin am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (MDW). Musik kann sprachliche und visuelle Inhalte verstärken, emotionalisieren oder ironisieren, sie zitiert, kopiert oder persifliert sich selbst und schafft dabei immer neue Bedeutungszusammenhänge. So entsteht eine musikalische Alltagsgeschichte, die in ihrer Komplexität mit den traditionellen Methoden der Musikgeschichte nicht fassbar ist.

Mit dem auf fünf Jahre anberaumten Projekt "Telling Sounds" wollen Szabó-Knotik und ihr Team den Grundstein für eine zeitgemäße musikhistorische Methodologie legen. "Voraussetzung dafür ist die große Menge an online zugänglichen audio(visuellen) Dokumenten sowie medial aufbereiteten und mit Musik unterlegten historischen Informationen", so die Wissenschafterin. "Wir wollen diese Klänge als Spuren von Geschichtlichkeit lesbar machen."

Die Sedimente freilegen

Um das zu bewerkstelligen, müssen all die digitalen Dokumente über die Grenzen der unterschiedlichen Sammlungen und Dokumententypen hinaus direkt miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Da ein automatisiertes Mapping infrage kommender Dokumente wegen der unterschiedlichen Aufnahmearten der einzelnen Sammlungen nicht möglich war, haben die Forscher für ihre Fallstudien die Dokumente quasi "manuell" zusammengestellt und mit Metadaten angereichert.

"Eine von uns entwickelte Software ermöglicht es, für jedes Dokument die damit verbundenen Personen, Orte, Institutionen, Zeiten, Ereignisse und musikalischen Repertoires zu erfassen", so Szabó-Knotik. Mit diesem neuen, auf den Technologien und Prinzipien von Linked Open Data aufbauenden Analysewerkzeug können große Mengen von Metadaten abgefragt werden. Die Datenerschließung setzt eine sogenannte Sedimentierung der einzelnen Dokumente voraus, also das Freilegen unterschiedlicher Schichten aus Sprache, Ton, Bild und Text, die wiederum aus unterschiedlichen Zeiten stammen können.

Oral History

Dafür kombinieren die Forscher Analysemethoden aus den Bereichen Medien- und Filmwissenschaft, Oral History, Musikanalyse und Performance-Studies. "Mittlerweile können wir diese Schichten bereits optisch darstellbar erfassen", sagt die Musikwissenschafterin. Der Nutzer kann damit quer durch alle Dokumente zu seinen Informationen kommen und bislang nicht erfassbare Zusammenhänge erkennen. "Letztlich geht es genau um dieses Erkennbarmachen historischer Zusammenhänge, die mit den traditionellen Methoden der Musikgeschichte unsichtbar bleiben."

Um das neue Konzept der Musikgeschichtsforschung an einem Beispiel zu verdeutlichen, verweist Szabó-Knotik auf das aktuelle Video der Österreichischen Wirtschaftskammer zur Propagierung des Zwölfstundentags. Der dreiminütige Clip ist mit einem Song unterlegt, der die Vorteile der geplanten Arbeitszeitregelung preist. Musikalisch erinnert das Liedchen stark an eine Nummer der Popgruppe Wanda, in der ironischerweise das müßige Leben besungen wird.

"Gibt man nun etwa die Keywords 'Arbeit' und 'Freizeit' in das System ein, erhält man neben dem Hinweis auf das Wirtschaftskammer-Video auch eine Reihe interessanter Querverweise über die Rolle von Musik in diesen Zusammenhängen", sagt Cornelia Szabó-Knotik. So gelangt man unter anderem zu einem mit dem Donauwalzer unterlegten Bericht über die Ausstellung "Wien, Stadt der Kunst, Stadt der Arbeit", die im Jahr 1953 in Karlsruhe gezeigt wurde. Der Walzer wiederum führt zu einem mit dem Frühlingsstimmen-Walzer unterlegten Videostatement der ehemaligen Belvedere-Chefin Husslein über den Fleiß der Österreicher in der Nachkriegszeit und von dort zum Thema "Staatsvertrag".

Computergestützte Verfahren

"Die thematischen und musikalischen Querverbindungen dieser Dokumente können über die Keywords hergestellt und sichtbar gemacht werden", beschreibt Szabó-Knotik die Möglichkeiten des noch in Arbeit befindlichen Systems. Man gelangt also vom Ursprungsdokument, dem Wirtschaftskammer-Video, zur österreichischen Popkulturgeschichte, zum Staatsvertrag und zum Walzer mit seinen unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen.

Die Anwendung computergestützter Verfahren und die systematische Nutzung digitaler Ressourcen tragen in den Geisteswissenschaften den Namen "Digital Humanities". Diese Verschmelzung der Geistes- und Kulturwissenschaften mit Informatik ist je nach Institution und Forschungsrichtung unterschiedlich weit fortgeschritten und wird von manchen nach wie vor mit einer gewissen Skepsis betrachtet. "Wir sind überzeugt, mit 'Telling Sounds' wesentlich zur Infrastrukturverbesserung der MDW beizutragen", sagt Szabó-Knotik. "Es leitet eine methodische Innovation ein, die uns die Tür ins digitale Zeitalter öffnet." Bis es so weit ist, sind allerdings noch etliche grundsätzliche Fragen zu klären. (Doris Griesser, 27.4.2019)