Viele Fälle sind bekannt, in denen poetisch Berauschte Loblieder auf die Städte ihres Herzens anstimmen. Wir kennen "Ganz Paris träumt von der Liebe", "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins", oder "Wien, Wien, nur du allein". Selten hingegen kommt es vor, dass ein musisch zum Nagetier mutierter Vizebürgermeister seine Stadt als Rattennest präsentiert: "Und nehm' die Stadt in Augenscheine (Du weißt, dass ich jetzt Braunau meine?)". Identitätswahrer, denen der Ort längst ein zweites Bethlehem geworden ist, hätten diese tourismusfördernde Anregung nicht benötigt, aber dem Bewusstsein der Welt von österreichischen Zuständen hat sie sich so eindeutig wohl noch nie eingeschrieben.

Ehe es noch zur Etablierung einer Braunauer Dichterschule kommen und sich die John-Otti-Band des Textes musikalisch unterwinden konnte, ergoss sich Straches strafender Strahl (Konsistenz bekannt) über den Reimer. Nach moralischer Ermunterung durch Bundespräsident und Bundeskanzler lieferte der Vizekanzler eine Distanzierung vom Vizebürgermeister ab, die sich von den wöchentlichen Routinedistanzierungen insofern unterschied, als sie freiheitliche Selbstaufgabe vortäuschte: Wenn es um Extremismus und Antisemitismus gehe, gebe es eine klare Richtung. Nur: Wohin?

Intellektuelle und moralische Abgründe

Allmählich wird es Zeit, in das Ritual freiheitlicher Distanzierungen eine gewisse Ordnung zu bringen, damit der Schreck, der den für Lyrik ressortzuständigen Bildungsminister nach einem Blick in "intellektuelle und moralische Abgründe" durchfuhr, nicht auf den Bundeskanzler übergreife und diesen zu einer Konsequenz treibe, die über Tatbegehung durch Unterlassung hinausreicht. Natürlich nicht gut für die Koalition.

Man muss sich nicht immer gleich so groß distanzieren, da hatte Vilimsky völlig recht, als er den frechen Zumutungen Armin Wolfs widersprach. Es gilt, Abstufungen zu beachten, und wer könnte dafür besser sorgen als der Regierungssprecher, ein gelernter Diplomat. Einmal Nützliches ums Steuergeld. Da wäre einmal die kleine Distanzierung, etwa von Fotos aus Bierzelten, auf denen sich rechte Arme emporrecken. Ist die Hand ausgestreckt, wurde nur gewinkt, zeigen sich drei Finger, wurden drei Gläser Milch der frommen Denkart bestellt. Glaubwürdig muss es sein.

Die normale Distanzierung ist geboten, wenn Flüchtlinge hinter Stacheldraht konzentriert werden sollen. Wozu sonst sollte das dienen, als zu ihrem Schutz vor einer freiheitlich inspirierten Bevölkerung? Die mittlere Distanzierung könnte dann beim Auftauchen von Liederbüchern greifen. Man erkennt sie daran, dass der Bundeskanzler mit dem Hinweis, er sei unmusikalisch, milde Kritik durchblicken lässt.

Die große feierliche Distanzierung findet mit Bundeshymne und Zapfenstreich als Staatsakt statt, bei dem sich alle Anwesenden von allem distanzieren, wovon sie sich schon immer distanziert haben, aber diesmal bis zum nächsten Mal wirklich.

Den Braunauer Dichter, den das Dichten sein Amt gekostet hat, soll man nach dem Erweis seiner poetischen Unzurechnungsfähigkeit nicht auf die Straße setzen. Das Rattennest könnte jetzt einen Stadtschreiber gebrauchen. (Günter Traxler, 25.4.2019)