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Die Thujaner schätzen das Wohnen im Grünen, wollen aber "grün" keinesfalls politisch verstanden wissen.

Foto: Getty/Lochner

Das Land, in dem ich wohne, heißt Thujistan. Es hat keine Zentralregierung, denn die Thujaner sind ein freiheitsliebendes Volk. Thujistan besteht aus zahllosen Exklaven im Rest der Welt. Neben dem Wesen seiner Bewohner definiert sich sein Hoheitsgebiet durch seine Grenzen, seine glatten, dunklen, übelriechenden und unüberschreitbaren Grenzen.

Diese bestehen aus meterhohen, zaunverstärkten und blickdichten Thujenhecken. Hinter ihnen liegt Thujistan, das Land mit der geringsten geografischen Ausdehnung und minimaler Einwohnerdichte, aber mit der höchsten Kilometerzahl an Grenzlinie. Reihte man sämtliche Thujenhecken aneinander, nähme sich die Chinesische Mauer dagegen bescheiden aus. Aber wer wird das schon tun.

Von einer "grünen Grenze" kann hier keine Rede sein. Die Thujenhecke bildet eine geschlossene, braun- oder blaugrüne Frontlinie aus soldatisch aneinandergereihten und ineinandergreifenden Thujenbäumchen, meist glatt und scharfkantig getrimmt. Im Eingangsbereich thujanischen Territoriums finden sich zur Verstärkung häufig hohe und prominent platzierte Thujeneinzelwachposten, von niederwüchsigem, bläulichem Nadelgehölz umkrochen.

Sie ist giftig und steril

In zahllosen Kadettenanstalten, vulgo Baumschulen, reift er heran, der Thujennachwuchs, anfangs spitz und schmächtig in Reih und Glied, bereit für seinen späteren Einsatz gegen neugierige Blicke und Eindringlinge. Dabei ist die Thuje in Europa ein Fremdenlegionär, ein amerikanischer Neophyt, sie hat hier keine natürlichen Feinde und bildet eine Insel im ökologischen Gefüge. Sie ist giftig und steril. Vögel nisten nicht in ihr, Insekten meiden sie. Auch nach dem europaweiten Schädlingsbefall der Buchsbaumhecken war bislang alles Hoffen auf das Auftreten eines Thujenzünslers vergeblich. Thujen sind evolutionsresistent. Der irrwitzige Versuch einzelner Bürgermeister oder Naturschutzbeauftragter, Thujenhecken in ihrem Zuständigkeitsbereich zu verbieten, scheitert meist noch vor Verfahrensende an der geringen Lebenserwartung der Betreffenden.

Da die Thuje im unbeschnittenen Zustand nach oben spitz zuläuft, nennt sie sich nach mediterranem Vorbild gerne anmaßend "Zypresse". Zwar gedeihen in unserem Klima keine Zypressen, doch der nord- und mitteleuropäische Thujaner möchte deswegen nicht auf südländisches Flair verzichten. Denn am liebsten macht er Urlaub bei sich zu Hause in Thujistan. Das Ausland betritt er bereits mit dem Durchschreiten der Gartenpforte, da rentieren sich keine Reisen.

Thujanische Vorfahren

Rund ums KZ Mauthausen und seine Nebenlager sind jene Bauernhöfe, wo sich einst die SS zwangseinquartiert hat, anhand der vor dem Tor aufgepflanzten Thujen – mittlerweile zu riesigen Bäumen ausgewachsen – noch heute leicht zu identifizieren. Ein bisschen Süden wollte sich der Germane und spätere Thujaner vors Haus holen, Schöner Wohnen rund ums KZ, den Bauernschädeln beibringen, was Kultur heißt, da musste schon mal der eine oder andere Mostbirnenbaum einer Thuje weichen. Bereits zuvor war im KZ Sachsenhausen, dem Modelllager nahe Berlin, ein frühes Kleinthujistan errichtet worden: Rund um das Kommandantur-Haus trennte eine blickdichte Hecke die SS-Chargen vom restlichen hässlichen Lagergeschehen ab. Ein bisschen Privatsphäre inmitten der umliegenden Häftlingsbaracken, ein bisschen Ruhe im Geknatter der benachbarten Genickschussanlage, ein bisschen Friedhofsduft ohne Gräber. Man muss es sich eben einrichten in seiner Nachbarschaft, das wussten bereits diese einst prominenten, heute im Nebel der Geschichte untergetauchten Vorfahren der Thujaner. Um die Idylle zu vervollkommnen, ließen sie sich von den Häftlingen vor der Kommandantur noch einen tamariskengesäumten Schwanenteich anlegen.

Ein Freund der Konifere

Der Thujaner von heute ist stolz, ohne wirklich zu wissen, worauf. Er schützt sich vor neugierigen Blicken, obwohl er von seinem Wesen her kaum Anlass zur Neugier böte. Er ist ein notorisch Gestörter, denn ihn stört alles: Unkraut, Geräusche, Gerüche, Kinder, Fremde, Nachbarn, der Nachbar an sich, der menschliche Anblick schlechthin, kurz die Restwelt. Sein kommunikatives Vokabular kreist um die Schlüsselwörter "Privatsphäre", "Sichtschutz", "Lärmbelästigung", "Eigentum", "unzumutbar" und "unerhört". Die Grenzen seines Gartens sind die Grenzen seiner Welt. Seine Nachbarschaft unterteilt er in "klagende Partei" und "beklagte Partei". Der Satz "Sie hören von meinem Anwalt" gilt ihm geradezu als Anmache.

Dabei bedarf es nicht zwingend einer Nachbarschaft, um ein Thujaner zu sein. Denn vielleicht besitzt er gar eine Liegenschaft in exklusiver Lage, mit traumhaftem Ausblick von einem Hügel weit ins Tal hinab – dann erträgt er so viel Weite nicht und umgibt sich mit einem schützenden Thujenwall. Damit er nicht aufgeht in der Landschaft wie indoor im Tapetenmuster. Vielleicht hat er auch nur einen Dachgarten oder wenigstens eine Terrasse mit Blick über die Stadt erworben – egal. Er wird sie mit einer Mauer aus Eternitkästen umgeben, um darin Thujen anzupflanzen. Zwar verstellen ihm die Bäumchen die teure Aussicht, aber er kann dazwischen hindurchspähen. Wo viel Geld fürs Wohnen ausgegeben wird, braucht es auch Schießscharten.

Im menschlichen Umgang eher ein Misanthrop, ist der Thujaner hingegen ein Freund der Konifere. An Blattgewächsen wird nur Hartblättriges geduldet. Zwar liebt er die Natur, aber nur, solange sie nicht natürlich aussieht. Er schätzt das Wohnen im Grünen, will aber "grün" nicht politisch verstanden wissen. Auch nicht farblich. Was er einpflanzt, beginnt meist mit Blau-, Silber-, Blut-, Zier-, Kriech-, Zwerg- oder was es sonst an Domestikationsmerkmalen gibt. Gehört er doch selbst einer domestizierten Spezies an. Seit die in den 60er-Jahren so beliebten Silbertannen seine Umgebung in ein Schattenreich verwandelt haben, gilt seine Liebe heute der Blauthuje.

Eine paradoxe Existenz

Da der Thujaner keinen Wert auf intellektuelle Spitzfindigkeiten legt, sei an dieser Stelle vermerkt, dass sich dieser Text dem Genderwahn verschließt. Mit dem Thujaner ist somit die Thujanerin mitgemeint.

Der Protothujaner ist Hauseigentümer in Stadtnähe, einem selbsternannten "Villenviertel", von bösen Zungen als Speckgürtel geschmäht. Dort herrschen viele ungeschriebene, aber umso strengere Gesetze. Gartenpflege ist dem Thujaner das höchste Gebot. Er überwacht seine Einhaltung ungeachtet des ihn umgebenden Blickschutzes weit über seine Gartengrenzen hinaus. Wie er das macht, ist ihm selbst ein Rätsel, aber er hat es gelernt, mit Widersprüchen zu leben. Der Thujaner will seinen Wohlstand zur Schau tragen, ohne dabei gesehen zu werden. Er ist sich selbst das liebste Publikum. Verlässt er (ungern!) sein thujanisches Hoheitsgebiet und wagt sich in den öffentlichen Raum, so umgibt er sich mit einer fahrbaren Blechhecke: Für jede noch so kurze Strecke benutzt er sein Auto, was ihn nicht daran hindert, sich über Abgase und Verkehrslärm zu beklagen. Er pocht auf eine bequeme Zufahrt zu seiner Liegenschaft, gewartet auf Gemeindekosten, ist aber gegen Straßenausbau oder gar Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, denn diese würden in seiner Umgebung grundsätzlich nicht benötigt.

Integrationsprobleme

Er hasst Zuzug ins Viertel und sabotiert jedes Neubauvorhaben mit querulatorischem Eifer, wünscht aber erst recht nicht, dass seine thujanischen Nachbarn Kinder bekommen und aufziehen. Sollte er selbst jemals welche gehabt haben, so wurden sie vermutlich erst im Alter von 18 Jahren geboren oder haben das Kinderzimmer seit ihrer Geburt nicht verlassen. An seine eigene Kindheit erinnert er sich nicht, und das aus gutem Grunde, denn die thujanische Kindheit verläuft düster.

Neothujaner, die sich noch auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, bis ihnen die Lust darauf vergeht, tun sich schwer mit der Integration. Die mickrigen Thujen, mit denen sie aus Assimilationsgründen willfährig ihre kreditfinanzierten Häuschen und Gärtchen einzirkeln, sind aus Kostengründen noch so niedrig, dass jeder Gartenzwerg sie überragt. Den Pflänzchen sieht man das Baumarktsonderangebot an, selbst wenn die Etiketten entfernt wurden und die Hausfrau, mit eins Komma vier lärmenden Kleinkindern in Karenz, sie zweimal täglich bewässert. Da mag sie noch so viel mit ihrem Streuselkuchen hausieren gehen und Weihnachtskekse verteilen, man wird über sie die Nase rümpfen beziehungsweise ihr per Gegensprechanlage erst gar nicht antworten. Der Blick hinter die Hecke bleibt ihr verwehrt.

Es wird viele Jahre dauern, bis die Fremdlinge die thujanische Staatsbürgerschaft erlangen. Dann sind sie meist schon längst geschieden, und ihre Kinder haben hoffentlich rechtzeitig die Flucht ergriffen. Zum Thujaner wird man erst, wenn man hinter seinem übermannshohen, geschlossenen Thujenwall verschwindet.

Da sich die Weitergabe thujanischer Liegenschaften vorwiegend im Erbweg vollzieht, stellt die Kinderfeindlichkeit der Thujaner ein demografisches Problem dar: Thujanische Siedlungsgebiete sind hoffnungslos überaltert und oft vom Aussterben bedroht. Dabei wünscht der Thujaner grundsätzlich, dass seine Nachbarhäuser bewohnt sind, denn er ängstigt sich vor Einbrechern beinahe zu Tode. (Erst die Erfindung des Bewegungsmelders hat ihm ein paar Stunden Nachtschlaf beschert.) Aber deren Bewohner sollten eben möglichst nur für den Einbrecher sichtbar sein und nicht für den Thujaner. Er hat bereits erwogen, jenseits seiner Thujenhecke Pappnachbarn aufzustellen, aber dies ist bis dato am Widerstand der benachbarten Thujaner gescheitert. Ebenso grundsätzlich will er in einem gepflegten Viertel wohnen, was leider die Instandhaltung der Bausubstanz nicht nur seiner eigenen Villa impliziert.

Ich mähe, also bin ich

Auch hier stößt er an seine paradoxen Grenzen: Bauarbeiten in seiner Umgebung lehnt er nämlich ebenso grundsätzlich ab. Wenn er wieder einmal eine Baufirma schon im Vorhinein durch Einsprüche und Klageandrohungen endgültig vergrault hat, lehnt er sich eine Weile gemütlich zurück, bis ihn der Ärger über verfallende Nachbarhäuser oder auch sein eigenes tropfendes Dach aus dieser trügerischen Ruhe wieder aufscheucht. Nein, leicht hat er es nicht, der Thujaner. Er ist psychisch instabil. Allein schon die Sichtung von Klee oder Löwenzahn im Rasen kann ihn in eine tiefe Depression stürzen.

Lustgewinn hingegen schöpft er aus seinem Kerngeschäft: Rasenmähen, Terrassenkärchern, Poolabschöpfen und Heckentrimmen. Die Erfindung des Laubbläsers, mit dem sich nicht nur blasen, sondern auch saugen lässt, hat seinem ansonsten reizarmen Dasein einen Hauch von Erotik verliehen. Das vielstimmige Geknatter motorisierter Gartengeräte ist der einzige Lärm, den er erträgt. Artfremde Lärmquellen duldet er nicht. Würden im Frühsommer am ersten regenfreien Tag nicht ringsum die Rasenmäher starten, würde ihn dies nachhaltig verunsichern.

Doch dazu besteht kein Anlass. Aufhellung bedeutet verlässliches Motorengeheul. Sekundengenau überwacht der Thujaner dabei die Einhaltung der amtlich verordneten Mittagspause zwischen zwölf und 15 Uhr sowie der Sonn- und Feiertagsruhe, die Nummer seines Anwaltes stets griffbereit. So erfährt er Sinnstiftung. Und sollte er einmal selbst im wöchentlichen Rasenmähen verhindert sein, durch Krankheit, Unfall oder, im unwahrscheinlichsten Falle, Urlaub, so beschallt er per Lautsprecher seinen Garten mit dem vorsorglich auf CD gebrannten Geräusch seines Rasenmähers. Wohlgemerkt nicht dem irgendeines Rasenmähers, nein, SEINES Mähers respektive Trimmers, Häckslers, Kärchers, Bläsers, Vertikutierers. Denn der Thujaner ist Individualist und unverwechselbar im Krach, den er macht.

Schließlich geht es um seine schiere Existenz inmitten all des Sichtschutzes: Ich mähe, also bin ich. An den Kanten meiner Hecke erkennt man mich: Ich bin ein Thujaner. (Sabine Wallinger, 27.4.2019)