Der Berliner Schriftsteller Maxim Leo: "Es kommt auch vor, dass ich Israel energisch verteidige und dabei völlig übertreibe."

Foto: Sven Görlich

Berlin, Prenzlauer Berg. Ein kühl-nasser Tag. Durch die Fenster des italienischen Restaurants geht der Blick hinaus, wo man das dichte Grün des Volksparks Friedrichshain in der Dunkelheit des Abends nur erahnen kann. Maxim Leo, Journalist und Schriftsteller, nimmt Platz. Er hat Hunger, schließlich wolle er nach dem Gespräch zum Fußball.

STANDARD: "Wo wir zu Hause sind" ist das zweite Buch über Ihre Familie. Haben Sie mittlerweile eine Art Besessenheit entwickelt, sich mit der eigenen Sippschaft auseinanderzusetzen?

Leo: Ich hoffe, dass es noch keine Besessenheit ist. Aber ich habe gemerkt, dass es mir eine große Kraft verleiht, wenn ich über Dinge schreibe, die mich tief berühren. Schon mit meinem ersten Buch über meine ostdeutsche Familie habe ich viel über mich selbst gelernt und meine Familie neu kennengelernt. Beide Bücher sind aus bestimmten Momenten heraus entstanden. Beim ersten Buch war es der Schlaganfall meines Großvaters, der auf einmal im Krankenhaus lag und nicht mehr reden konnte. Sein Verstummen gab mir den Mut, seine und unsere Geschichte aufzuschreiben.

STANDARD: Beim neuen Buch war es die Hochzeit Ihres Bruders in Brandenburg vor ein paar Jahren.

Leo: Genau. Da waren auf einmal Cousins und Cousinen aus England und Israel da, deren Großeltern in den 30er-Jahren Berlin verlassen mussten. Mein Großvater musste damals auch flüchten, kam aber – anders als seine Geschwister – nach dem Krieg nach Berlin zurück, weshalb ich hier geboren wurde. Ich hatte bis dahin kaum gleichaltrige Verwandte getroffen und hatte in den Gesprächen mit ihnen das Gefühl, dass auch sie unsere mysteriöse Familiengeschichte umtrieb. Dass sie eine Sehnsucht nach Berlin hatten, dieser verlorenen Heimat ihrer Vorfahren. Wir haben gemerkt, dass wir uns die ganze Zeit gegenseitig beneidet haben. Ich habe immer gedacht, dass die anderen es gut haben, weil sie in London oder Tel Aviv leben durften, während ich in Ostberlin aufwachsen musste. Und die anderen dachten, wie gut ich es habe, weil ich in der Stadt leben konnte, von der sie immer nur in den sehnsuchtsvollen Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern gehört hatten.

STANDARD: War die Flucht Ihrer Verwandten ein Thema in Ihrer eigenen Familie?

Leo: Das war schon ein Thema. Aber als Kind hört man die ganzen Geschichten vom Krieg und kann sie nicht wirklich verstehen. Ich habe lange gebraucht, um das alles einordnen zu können. Um zu verstehen, dass diese Geschichten auch mit mir zu tun haben. In Erinnerung sind mir vor allem die Geschenke geblieben, die meine Verwandten aus England und Israel in die DDR mitbrachten. Von meinem Onkel André aus London habe ich 1985 meinen ersten Walkman bekommen. Das rechne ich ihm bis heute hoch an.

STANDARD: Welche Rolle spielte das Jüdischsein in Ihrer Familie?

Leo: In unserer Familie spielte das Jüdischsein eher eine verschämte Rolle. Jude zu sein bedeutete immer auch, Opfer zu sein. Viel wohler fühlte sich zum Beispiel mein Großvater als Kommunist, der für seine Sache kämpft. Außerdem hatte das Jüdischsein auch immer eine religiöse Komponente, die in unserer Familie aus Prinzip abgelehnt wurde. Die Einzigen, die sich ganz klar zu ihrem Judentum bekennen, sind die Verwandten meiner Großtante Irmgard, die in Israel groß wurden. Bei mir selbst spüre ich vor allem eine große Betroffenheit und Sensibilität allem gegenüber, was mit dem Judentum zu tun hat. Es kommt auch vor, dass ich Israel energisch verteidige und dabei völlig übertreibe.

STANDARD: Hat auch die Flüchtlingskrise dazu beigetragen, sich mit dem Thema Flucht in der eigenen Familie zu beschäftigen?

Leo: Nein. Das war reiner Zufall. Wir haben einer syrischen Familie ein wenig geholfen, hier Fuß zu fassen. Dabei habe ich in den Fluchtgeschichten dieser Leute auch Parallelen zu den Geschichten meiner Verwandten gefunden. Weil natürlich keiner von denen wegwollte, weil sie gezwungen waren, ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Heimat zu verlassen und in die Fremde zu gehen. Ich habe so vielleicht noch mal deutlicher begriffen, mit welchen Schmerzen so ein Verlust verbunden ist. Besonders beeindruckt hat mich die Flucht von Irmgard nach Palästina. Wenn man aus Berlin-Wilmersdorf kommt, ein behagliches bürgerliches Leben geführt hat und dann dorthin kommt, wo die Natur und das Klima viel extremer sind, wo man in einem Kibbuz unter größten Entbehrungen hart arbeiten muss und wo ständig geschossen und gestorben wird.

STANDARD: Wie haben Ihre Verwandten auf das Vorhaben, ein Buch über die eigene Familie zu schreiben, reagiert?

Leo: Meine Verwandten waren alle sehr offen und haben mir bereitwillig ihre Geschichten erzählt. Vor allem den Älteren ist es wichtig, dass ihre Geschichte nicht vergessen wird. Ich habe viel Zeit mit meinen Verwandten verbracht, geredet, zugehört. Glücklicherweise gab es viele Dokumente, Briefe, Fotos, die mich neben der Archivrecherche weitergebracht haben. Man muss auch verstehen, dass viele meiner Verwandten selbst an so einem Punkt wie ich waren. Sie wollten mehr über die Familie wissen. Und: Eine verlorene Heimat, denke ich, führt auch immer automatisch zu den Was-wäre-wenn-Fragen? Was wäre also gewesen, wenn ein André in Berlin aufgewachsen wäre und nicht in London? Solche Fragen wabern über Generationen im Unterbewusstsein von Familien mit, was dazu führt, dass man eine Flucht wie die meiner Verwandten besser verstehen will.

STANDARD: Gibt es so etwas wie ein Familiengedächtnis?

Leo: Wahrscheinlich gibt es so etwas. Ich stelle es mir wie eine Art Netzwerk vor, über das man Dinge erfährt und erfühlt, die von den anderen erlebt wurden. So ähnlich wie bei den Bäumen, die über lange Wurzeln verbunden sind und sich Nahrung und Informationen zuspielen. Es gab zum Beispiel bei uns zu Weihnachten immer Hühnersuppe zu essen. Meine Mutter sagte, das sei praktisch, so müsse sie am Weihnachtsabend nicht in der Küche stehen. Erst bei meinen Gesprächen zu diesem Buch habe ich erfahren, dass die Juden an Chanukka Hühnersuppe essen. Das heißt, wir hatten bei uns eine jüdische Tradition, von der wir selbst nichts wussten.

STANDARD: Ihr Cousin Amnon aus Israel, so kann man lesen, hatte, als er zum ersten Mal nach Berlin kam, ein sehr vertrautes Gefühl der Stadt gegenüber, die er ja nur aus den Erzählungen seiner Großmutter kannte.

Leo: Ja, er hatte das Gefühl, schon oft hier gewesen zu sein. Genau wie ich, als ich das erste Mal in Israel war, eine seltsame Vertrautheit spürte. Bei Amnon habe ich manchmal das Gefühl, dass er eine Variation meiner selbst ist. Eine andere Möglichkeit von mir. Er ist ja tatsächlich für eine Zeit nach Deutschland gekommen und hat hier als Kardiologe an der Klinik hospitiert.

STANDARD: Michal, Amnons Mutter, sagt im Buch, es sei schwer, seine Heimat abzuschütteln, den Ort, an dem man sich nicht erklären muss. Haben Sie nun besser verstanden, was Heimat für Sie ist?

Leo: Ich habe verstanden, dass Heimat für jeden etwas anderes ist. Dass man es nicht auf einen Ort oder eine Familie reduzieren kann. Dass es manchmal nur ein Geruch ist, eine Farbe oder ein Schwarm Wildgänse, der vorbeifliegt.

STANDARD: Und haben Sie durch die Arbeit an dem Buch etwas gefunden, was Sie selbst mit anderen, auch weit entfernten Familienmitgliedern verbindet?

Leo: Ja, es gibt Ähnlichkeiten, seltsame Parallelen. In unserer Familie gibt es viele eigenwillige und eigensinnige Charaktere, die vor allem auf sich selbst und ihre Instinkte vertrauen. Vielleicht haben Irmgard, Ilse und Hilde auch deshalb schon so früh gemerkt, dass die Situation in Nazideutschland gefährlich für sie wurde. Dass sie wegmussten.

STANDARD: Was nehmen Sie selbst aus der intensiven Beschäftigung mit Ihrer Familie mit?

Leo: Für mich ist ein echtes Familiengefühl entstanden. Durch das Buch spüre ich nun auch, dass ich diese Verwandten in all diesen Ländern habe. Ich kenne sie nicht nur aus irgendwelchen Geschichten. Was mich sehr gefreut hat: Zu der Buchpräsentation in Berlin sind tatsächlich alle, die ich für das Buch interviewt habe, angereist. Man kann also ganz bestimmt sagen: Durch das Buch sind wir zusammengewachsen. (Ingo Petz, 27.4.2019)