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Syrischer Alltag: ein Bub mit einer Kiste mit Lebensmitteln vom World Food Programme in Aleppo's Bezirk Kalasa am 10. April 2019.

Foto: Reuters

Die Wette, ob die Staaten der arabischen Welt, oder zumindest einige davon, zur Demokratie fähig sind, gilt", schreibt Daniel Gerlach in seinem neuen Buch: Dieses hebt sich allein schon durch den optimistischen Titel und Untertitel, der jenem gemarterten Teil der Welt eine "historische Chance" zuspricht, von anderen Nahost- Büchern am Markt ab.

Tatsächlich muss viel außerhalb und innerhalb der betreffenden Gesellschaften auf die richtigen Schienen gestellt und durchgezogen werden, damit die Wende, die Gerlach plastisch vorstellt, auch gelingt. Aber allein, dass sich einer traut, aus dem depressiven Strudel auszubrechen, aus dem fast alle Nahostanalysten seit Jahren nicht herauskommen – die Autorin dieser Besprechung eingeschlossen -, und sich Visionen zu erlauben, ist eine Wohltat.

Und da schreibt kein Naiver. Gerlach, Jahrgang 1977, ist einer der raren Fälle von gelernten Orientalisten, die sich nicht auf eine einzige Anwendung ihrer Kenntnisse festnageln lassen: Schon während des Studiums gründete er das Nahost-Magazin Zenith, das heute im deutschen Sprachraum seinesgleichen sucht und wo er auch selbst schreibt (und Chefredakteur und Herausgeber ist). Aber er ist auch Mitbegründer des Beratungsinstituts zenithCouncil sowie des Thinktanks Candid Foundation. Das heißt, er beschränkt sich nicht auf den Journalismus, sondern übt auch sozusagen angewandte Nahostexpertise aus.

Das führt dazu, dass Gerlach in seinen Texten nicht nur im klassischen Sinn von seinen Reisen und Begegnungen erzählt und Entwicklungen analysiert und kommentiert, sondern aus der Praxis politischer und gesellschaftlicher Prozesse – etwa der Versuche, einen Neubeginn für Syrien zu finden – berichtet.

Ausdruck dessen ist das vierte Kapitel des Buchs "... in dem eine syrische Tafelrunde gelobt, ihre Heimat nicht länger den Barbaren zu überlassen". Hinter der barocken Überschrift versteckt sich die Beschreibung der Organisation eines "Rates des syrischen Charta", einer Gruppe, die sich nicht weniger vorgenommen hat, als einen neuen syrischen Gesellschaftsvertrag zu entwerfen.

Dazu gehört auch schmerzhafte Selbsterkenntnis: zum Beispiel, dass es nicht reicht, wenn jemand eine Bevölkerung spalten will. Diese muss auch bereit sein, gespalten zu werden. Und die syrische Gesellschaft muss auch wieder selbst das Heft in die Hand nehmen, wenn sie es mit den anderen mächtigen Playern aufnehmen will, die momentan das Schicksal Syriens entscheiden.

Ja, das klingt utopisch – und Gerlach lässt, bis er jeweils zu seinen in die Zukunft weisenden Ausführungen kommt, zu den Realitäten in der arabischen Welt sehr oft das Wort "schlechterdings" von der Feder fließen. An den "Geißeln der arabischen Welt" gibt es nichts zu beschönigen. Despotismus, wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit, Extremismus und – keine Wortkreation Gerlachs, sondern sozusagen eine Lehnübersetzung aus dem Französischen – der "Sektarismus".

Ob sich der Begriff durchsetzen wird, ist unsicher, aber tatsächlich fehlt es im Deutschen an einem passenden Ausdruck für arabisch "ta'ifiya", was mehr ist als die Betonung der eigenen Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe: Es schließt den Wunsch nach Verdrängung aller anderen mit ein.

Brandbeschleuniger

Der Sektarismus ist der "Brandbeschleuniger", der etwa den Aufstieg des "Islamischen Staats" erst möglich machte. Laut Gerlach sind sich aber immer mehr Menschen im Nahen Osten dessen bewusst und wissen, dass es keinen Neubeginn ohne Überwindung dieser Krankheit gibt. Da von oben die Impulse dazu kaum kommen werden, liegt die Hoffnung allein auf den arabischen Zivilgesellschaften.

Als Visionär für die arabische Welt kommt erfreulicherweise auch der in Wien lebende "Zukunftsprofessor" Ayad al-Ani zu Wort, den man auch als STANDARD-Gastkommentator kennt. Er entwirft eine digitale arabische Welt – nur ein Beispiel dafür, dass Gerlach versucht, nicht im Vagen zu bleiben, sondern konkrete Modelle zu offerieren, in denen "der Nahe Osten doch nicht untergeht" (so heißt das letzte Kapitel).

Nein, jene Leute, die die Araber – und die Muslime – für demokratieunfähig halten, wird das Buch nicht überzeugen. Kurioserweise teilen sie diese Ansicht mit den arabischen Despoten, die wissen, was für "ihr Volk" gut ist – wie soeben Ägyptens Präsident Sisi mit seinen Verfassungsänderungen. Aber auch wer die rassistische Idee eines "homo arabicus" nicht teilt, hat das Nachdenken über Transformation in der arabischen Welt oft auf dem Altar einer – vermeintlichen – Stabilität geopfert. Gerlach hilft dabei, dieses Denken wieder ein wenig aufzubrechen. (Gudrun Harrer, 27.4.2019)