Deutsche Interessen gebe es nicht, von "den Deutschen" zu sprechen sei überhaupt unsinnig. Das EU-Parlament sei machtlos und irrelevant. Das sagt Yanis Varoufakis, ehemaliger Finanzminister Griechenlands. Seine aktuelle Mission: Er kandidiert auf einer Liste in Deutschland, um ins EU-Parlament gewählt zu werden.

Widersprüchlich findet er das alles nicht, sagt er Journalisten, die ihn fragen, ob seine Positionen überhaupt wahlkampftauglich seien. Und zwar auf Englisch. Deutsch spricht er ja auch nicht.

Es ist Donnerstagvormittag, und Varoufakis sitzt in der Lobby eines Freiburger Hotels. Am Vortag ist er mit der Bahn verspätet aus Frankfurt kommend in der südwestdeutschen Stadt eingetroffen. Einen Wahlkampfauftritt seiner Parteikollegen von "Demokratie in Europa" in der Freiburger Innenstadt hat er verpasst.

Damit sei ihm ein "ernüchternden Anblick" erspart geblieben, schrieb die Badische Zeitung später spöttisch. Bloß ein paar Dutzend Neugierige wollten hören, was der Grieche zu sagen gehabt hätte. Am Abend bei einer Diskussionsveranstaltung mit Varoufakis, zu der 400 Zuhörer kommen, läuft es besser.

Von Burgenland nach Straßburg ist es weit

Varoufakis klingt dennoch optimistisch. "Unsere oberste Priorität ist es, den Diskurs über Europa zu ändern", sagt er im STANDARD-Gespräch. Diesem Ziel komme man näher, ob die Partei nun ein Mandat erreiche oder nicht.

In einem Monat wird das neue EU-Parlament gewählt. Auch wenn die Aufgabe der Abgeordneten darin besteht, Gesetze für die gesamte Union zu beschließen und die EU-Kommission zu kontrollieren, finden die Wahlkämpfe voneinander unabhängig in 28 nationalen Arenen statt. Parteien versuchen in ihren Heimatländern vor Heimatpublikum zu punkten. Da bleibt für transnationale Debatten wenig Platz.

Gut beobachten ließ sich das gerade in Österreich: Die ZiB 2-Auftritte der EU-Spitzenkandidaten Andreas Schieder (SPÖ) und Harald Vilimsky (FPÖ) haben heftige Debatten ausgelöst. Bei Schieder, weil er Kritik an der Koalition der SPÖ im Burgenland mit den Freiheitlichen übte, Vilimsky sorgte mit seinen Angriffen gegen Armin Wolf für Wirbel. All das sind gewiss wichtige Themen und Debatten. Mit Europa oder Europapolitik haben sie nichts zu tun.

Eine transnationale Liste

Varoufakis bricht aus diesem Schema aus: Seine Partei ist keine deutsche Wahlbewegung. Auf Platz zwei hinter ihm gereiht ist die Österreicherin Dani Platsch. Die Ökonomin und Organisationsentwicklerin lebt in Wien und ist beim Wandel, einer linken Minipartei aus Österreich, aktiv. Sie bestreitet den Wahlkampf in ihrer Freizeit und zahlt die Reisen in Deutschland selbst. Auf Platz drei steht der kroatische Philosoph Srecko Horvat. Kandidaten aus sieben Ländern treten auf der Liste an.

Auch wenn bei den EU-Wahlen mehrere Politiker außerhalb ihrer Heimatländer kandidieren (siehe Infobox), gibt es keine Partei, die annähernd so transnational aufgestellt ist.

Dani Platsch: Die Ökonomin kämpft in ihrer Freizeit für ein anderes Europa. Sie hat sowohl die deutsche als auch die österreichische Staatsbürgerschaft und kann deshalb in Deutschland antreten. Varoufakis hat einen Wohnsitz in Berlin, was ihm die Kandidatur ermöglicht.
Foto: APA

Varoufakis ist ebenso prominent wie umstritten. 2015 wurde der Ökonom für die linke Syriza ins griechische Parlament gewählt. Premier Alexis Tsipras machte ihn zum Finanzminister. In dieser Zeit legte er sich mit nahezu allen Eurokollegen an.

Er kämpfte für eine Lockerung der Sparpolitik in seinem Heimatland, ließ heimlich an einem Plan zur Einführung einer Parallelwährung arbeiten, pfiff auf diplomatische Konventionen – und blieb glücklos. Griechenland wählte den Verbleib im Euro und musste den Sparkurs fortsetzen. Varoufakis wurde von Tsipras aus dem Amt gedrängt.

Kritiker können mit der sprunghaften Art und dem Hang zur Selbstinszenierung des 58-Jährigen nichts anfangen. So provozierte er etwa mitten in der Krise mit einer opulenten Fotostory im Magazin Paris Match aus seinem Athener Penthouse die griechische Öffentlichkeit. Die wirtschaftspolitischen Ideen des Ökonomen werden von Kritikern ohnehin als linke Träumereien abgetan.

500 Milliarden für den Klimaschutz

Doch dass der Grieche bei der EU-Wahl ausgerechnet in Deutschland antritt, dürfte auch Menschen, die mit seinen linken Positionen nichts anfangen können, gefallen. Denn "Demokratie in Europa" fordert explizit mehr Europa und will den Rückfall in wirtschaftliche Abschottung und Nationalismus verhindern.

Kernforderung der Bewegung sind 500 Milliarden Euro pro Jahr für ein grünes Investitionsprogramm, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Finanziert werden soll dieser Green New Deal von öffentlich-rechtlichen Investmentbanken, die via Anleihen Geld von Gläubigern einnehmen. Die Europäische Zentralbank soll niedrige Zinsen für diese Anleihen garantieren. Die EU soll eine Verfassung bekommen. Länder mit großen Handelsüberschüssen wie Deutschland sollen mit einer EU-Steuer belegt werden. Das Geld sollen Staaten mit schwächelnder Wirtschaft bekommen. In der Migrationspolitik fordert die Partei ein Ende der Festung Europa. "Wir glauben nicht an Grenzen", sagt Varoufakis.

Yanis Varoufakis, von seinen Fans als Schreck des Establishments gefeiert, bei einem Auftritt in Berlin.
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Er will mit dem Mythos aufräumen, dass die europäischen Konfliktlinien zwischen Ländern verlaufen, ob nun Nord-Süd oder Ost-West. "Es gibt weder die Deutschen noch die Österreicher", sagt er. Ein deutscher Arbeiter habe mit einem griechischen Arbeiter mehr gemein als mit der "reichen Oligarchie" seines Heimatlandes.

"Varoufakis macht den Vorschlag, Europa nicht mehr als ein reines Projekt der Nationalstaaten zu begreifen", sagt der Wiener Politikwissenschafter Georg Lauss. "Das ist ein spannendes Experiment." Die Kandidatur des linken Provokateurs erweitere zudem das Angebot an wählbaren Parteien. "Oft wird kritisiert, dass die Parteien ohnehin immer austauschbarer werden und echte Alternativen fehlen. Das kann in Deutschland nun niemand mehr sagen", sagt Lauss.

Das Mandat erscheint möglich

Ob das Experiment erfolgreich sein wird, ist freilich fraglich. In Deutschland gibt es zwar keine Schwelle, die eine Partei überspringen muss. 0,6 Prozent der Stimmen reichten bei den Europawahlen 2014 einem Satiriker für ein Mandat. Zugleich spricht viel gegen die neue linke Partei: Geld für den Wahlkampf fehlt. Varoufakis will, selbst wenn er ein Mandat gewinnt, dieses nicht annehmen. Die Österreicherin Platsch würde statt ihm ins Parlament einziehen.

Die Kandidatur für ein Amt, das er gar nicht will, ist für Varoufakis kein Widerspruch: Statt im "schwachen" Parlament zu sitzen, möchte er dem Ableger seiner paneuropäischen Bewegung "DiEM25" bei den anstehenden Parlamentswahlen in Griechenland helfen und tritt auch dort an. Aber auch dieses Mandat werde er vielleicht nicht annehmen, so es eins gibt. "Es geht uns ja nicht um Individuen", sagt Varoufakis, "sondern um die Bewegung." Gerade aus seinem Mund klingt selbst das wie eine kleine Provokation. (András Szigetvari, 27.4.2019)