Wien – Bei Bruckner wird er mit Freuden zum Wiederholungstäter: Vor drei Monaten gab Christian Thielemann im Musikverein dessen zweite Symphonie zusammen mit der Staatskapelle Dresden zu Gehör, am vergangenen Wochenende führte er das Werk mit den Wiener Philharmonikern auf. Mit den Sachsen hat der Deutsche schon alle Bruckner-Symphonien auf Tonträger gebannt, mit den Wienern wird Selbiges in Angriff genommen.
Wobei "Angriff" für Thielemanns aktuellen Interpretationszugriff eigentlich zu martialisch klingt: Deutlich entspannter und spielerischer ist der 60-Jährige in den letzten Jahr(zehnt)en geworden – wenn auch kein bisschen nachlässiger in Sachen der Detailarbeit. Seine Deutung der Zweiten (in der Fassung von 1877) war am Samstagnachmittag oft erfüllt von mädchenhafter Anmut, von jugendlichem Elan und von Eleganz.
Hurtiges Finale
Thielemann verstand es, einen Bogen über das zerklüftete Werk zu spannen. Behänder Fluss statt starrer Blockhaftigkeit, weiche Volten statt eckiger Wucht: Die Phrasierung des klobigen Fortissimo-Themas im Scherzo etwa glich einer eleganten Verbeugung. Schildkrötentempo ist nicht bei Thielemann, im Scherzo und speziell im Finale ging’s hurtig dahin.
Die ersten acht Takte des Andante-Themas sind ja etwas vom Schönsten überhaupt; die sich ineinander verschränkenden Stimmen der Ersten und Zweiten Geigen sind als ein Sinnbild für innige, erfüllte, verschmelzende Liebe zu begreifen. Speziell die Steigerung bei der zweiten Wiederkehr des Themenblocks (mit den Bläsern) erfüllte Thielemann mit enormer Intensität.
Weichgespülte Trompeten
Die Eröffnung des Kopfsatzes war von fein gezeichneter Agilität geprägt; schön, wie Thielemann bei der Wiederholung des unsteten ersten Themas der nun mit den Kontrabässen verstärkten Cellogruppe (ab Takt 27) mehr Dringlichkeit und Substanz im Ton erlaubte. Die Cellogruppe bot endlich einmal wieder Feingefühl und Intensität. Wundervoll die Balance von Sinnlichkeit und Bedächtigkeit beim Es-Dur Thema. Wohlerzogen, fast etwas weichgespült später die Trompeten, die doch gegen Ende von der unerbittlichen Härte des Schicksals künden sollten.
Die Kontrastgruppen Militär/Masse/Maschine und Poesie/Individuum/Natur standen sich in der gesamten Werkzeichnung versöhnlicher gegenüber als sonst üblich: eine zusammenführende, integrative Deutung. In Summe durfte man der Nachschöpfung eines Kunstwerks beiwohnen, die von einer Wohlausgewogenheit, einem Detailreichtum, einer Farbenpracht und einer Größe war, dass man sie am liebsten sofort rahmen lassen und übers Wohnzimmersofa hängen wollte.
Blitzhell gleißend
Vor dem Bruckner enttäuschte die Uraufführung eines Werks des britischen Komponisten Christian Mason. Nach einer Eröffnung in C-Dur mit Flageolett-Gesäusel der Streicher (sollten die Tonart und ein Halbtonschrittmotiv an die Zweite erinnern?) folgte in dem kleinteilig-fragmentierten Werk ein bisschen etwas von allem: noble Akkordfolgen der Bläser, blitzhell gleißende Streicher, ernstes Blech und überreichlich viel ärmliche, löchrige Zweistimmigkeit. Neben den wunderschönen lyrischen Zeilen von William Blake, die dem 34-jährigen Komponisten als Inspirationsquelle dienten, war das Beste an Eternity in an hour, dass das Stück nur eine Viertelstunde dauerte.
Lieblingspreuße der Wiener
Trotz aller Schwächen gab es am Samstagnachmittag im Musikverein freundlichen Beifall für das Werk, den der Komponist im hellen Anzug beglückt entgegennahm. Da ist das notorisch novitätsskeptische Publikum der Philharmonischen Abonnementkonzerte aber über seinen Schatten gesprungen.
Für Thielemanns Bruckner gab es Beifallsstürme, wieder und wieder wurde der Dirigent auf das schon verwaiste Podium gerufen. Aber der Lieblingspreuße der Wiener Traditionsromantiker bleibt der Stadt im Wonnemonat Mai ja ohnehin erhalten: Thielemann leitet am 25. dieses Monats die große Premiere der Frau ohne Schatten zum 150. Geburtstag des Opernhauses am Ring. (Stefan Ender, 28. 4. 2019)