Michael Ludwig steht vor der größten Herausforderung seines Lebens. Die kommende Wien-Wahl wird zum Scheidepunkt für die soziale Jahrhundertbewegung. Die Sozialdemokratie wird ihr Inneres schonungslos offen legen müssen, will sie Platz eins mit einem eindeutigen Ergebnis verteidigen. Sie muss einmal mehr die Wiener Seele in emotionale Resonanz versetzen und dabei wird ihr ein rauer neoliberaler Wind von türkis-blauer Seite entgegen pfeifen. Die Themen Migration und Sicherheit werden den Leistungen aus Jahrzehnten roter Regentschaft in Wien gegenüberstehen. Hier stellt sich unvermeidlich die Frage, wofür die SPÖ in Zeiten wie diesen noch steht.

Wofür steht die Sozialdemokratie?

SPÖ-Urgestein Hannes Androsch regte 2016 in einem ZIB2-Interview zu seiner Bewegung und der damaligen Obmanndebatte um Werner Faymann zum Nachdenken an. Der einstige Kronprinz Kreiskys meinte, dass es nicht einfach darum geht, Personen auszutauschen, sondern man sich vielmehr zuerst um eine Gesamtkomposition für die Partei zu bemühen hätte, bevor man sich ein passendes Orchester für die Bewegung überlegt. Da die Wahrheit eine Tochter der Zeit ist, gab ihm diese nach der verlorenen Nationalratswahl 2017 Recht. Der reine Wechsel an der Spitze der Partei reichte ohne einen qualitativen Wandel in der Bewegung nicht aus. Die Sozialdemokratie ist in Österreich – und das ist ihre größte Schwäche – weiterhin eine Organisation an Pragmatikern, die Ideale zugunsten von Macht, Einfluss und Positionen in den Hintergrund rückt. Das Wort Freundschaft ist nicht lediglich eine bloße Worthülse, sondern hat eine tiefere Bedeutung der Solidarität – nämlich dass einer für alle eintritt und alle für einen ihre Stimme erheben. Dies war und ist die elementare Stärke der Sozialdemokraten.

Ludwig führt die SPÖ durch die Wien-Wahl 2020. Die Partei steht vor großen Herausforderungen.
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Idealismus versus Pragmatismus

Wie sagte schon der verstorbene Säulenheilige der europäischen Sozialdemokratie Helmut Schmidt: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen". Dieses Paradigma steht leider für eine pragmatische Politik, die wenig Spielraum für individuelle Wünsche und Träume von Menschen zulässt und die die Ratio ins Zentrum stellt. Doch bei aller Logik darf man nie vergessen, dass es bei der Politik nicht nur um Fakten geht, sondern um Menschen mit Emotionen und Ängsten und je nach Welt- und Wertbild werden unterschiedliche Bedürfnisse angesprochen, die nicht immer durch rationale Gedanken, sondern eher durch Emotionen und subjektive Gefühle ihre Entsprechung finden. Diese These wurde durch die letzte Nationalratswahl und die entscheidende Dominanz der Flüchtlingsthematik eindrucksvoll belegt. Daher muss eine Politik der Zukunft, will sie nicht durch negative Propaganda und Feindbilder geprägt sein, positive Visionen ansprechen, die nicht immer Utopien sein müssen.

Der 1. Mai – ein bedeutender Tag

Ein Fallbeispiel für die gelebten Ideale und Werte der Sozialdemokratie war der nach Amerika emigrierte und international renommierte Psychoanalytiker und überzeugte Sozialdemokrat Rudolf Ekstein. Immer wenn es ihm möglich war, reiste er für den 1. Mai in seine, ihm trotz schrecklicher Erfahrungen im Nationalsozialismus positiv am Herzen liegende Heimat – nach Wien. Nicht als großer Fachmann, sondern bewusst, um als Teil einer gesamten Bewegung solidarisch zu marschieren.

Dies tat er aus vollster Überzeugung, da er aus prägender Erfahrung und als Zeitzeuge des Faschismus erfahren musste, wie wenig ein Menschenleben wert sein kann, wenn man nicht Teil einer positiven Wertegesellschaft ist, die niemanden im Regen stehen lässt.

Persönlichkeitsprofil der Partei

Die SPÖ wird sich nicht nur in Wien im Inneren die Frage stellen müssen: "Wer bin ich?". Nicht Berater, Strategen oder Agenturen werden für die SPÖ Wien die Wahl gewinnen, sondern die Bereitschaft jedes einzelnen noch so kleinen Parteimitgliedes und Funktionärs bis hinauf zum aktuellen Wiener Bürgermeister. Die Wienerinnen und Wiener werden entscheiden ob ihr Wien ein rotes bleiben soll oder ob die Zeichen der Zeit wie im Bund auf Veränderung stehen. (Daniel Witzeling, 30.4.2019)

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