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Vladimír Špidla, Gerhard Schröder und Leszek Miller, die Regierungschefs Tschechiens, Deutschlands und Polens, hissten am 1. Mai 2004 gemeinsam mit Erweiterungskommissar Günter Verheugen (v. li.) im Dreiländereck die EU-Fahne.

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Reisepässe kontrolliert in dieser Nacht niemand. Der Bundesgrenzschutz hat sogar Pontonbrücken über die Neiße errichtet, damit die Menschen bequem zwischen Deutschland, Polen und Tschechien im Kreis flanieren können. Auf den sonst ruhigen Auwiesen stehen Festzelte, auf mehreren Bühnen wird musiziert, es riecht nach Flussufer, Bratwurst und Bier. Kurzum: Im Dreiländereck herrscht Volksfeststimmung an jenem 30. April 2004, dem Vorabend der größten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union.

Gleich zehn Staaten wurden am 1. Mai 2004 um punkt null Uhr als neue EU-Mitglieder begrüßt: die vier Visegrád-Länder, also Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, allesamt ehemalige kommunistische Diktaturen; die drei baltischen Ex-Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen; zwei Inselstaaten, nämlich Malta und Zypern; und schließlich Slowenien, das als erste Nachfolgerepublik Jugoslawiens den Weg in die Union fand. Aus den EU-15 wurden mit einem Schlag die EU-25 – Bulgarien und Rumänien sollten erst 2007 nachfolgen, Kroatien als jüngstes Mitglied erst 2013. Als das Festgelände an der Neiße um Mitternacht von einem riesigen Feuerwerk erleuchtet wird, ist die Bevölkerung der Europäischen Union gerade von 380 auf 450 Millionen Menschen angewachsen.

Überwindung des Krieges

In Brüssel hatte Erweiterungskommissar Günter Verheugen die Aufnahme der zehn Neuen in minutiöser Kleinarbeit vorbereitet. An seinem großen Tag verlor dann sogar er die Orientierung im Wirrwarr des deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländerecks: "Ich bin heute über so viele Grenzen gegangen, dass ich nicht mehr weiß, wo ich bin", stellte der deutsche Sozialdemokrat sichtlich bewegt fest. Aber eigentlich sei das auch gar nicht wichtig, denn: "Ich bin in Europa!"

Der damalige polnische Regierungschef Leszek Miller sah das ähnlich: "Wir gehören jetzt zum gemeinsamen europäischen Haus – egal wo wir wohnen", sagte Miller, der zusammen mit seinen Amtskollegen aus Deutschland und Tschechien, Gerhard Schröder und Vladimír Spidla, an den Feierlichkeiten an der Neiße teilnahm. Der gelernte Historiker Spidla wiederum bezeichnete die Erweiterung gar als "endgültige Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkriegs".

Alte und neue Ängste

Heute, 15 Jahre später, scheint sich die Begeisterung gelegt zu haben. Zu den Sorgen, die bereits vor der Erweiterung artikuliert worden waren – in den alten Mitgliedstaaten etwa die Furcht vor billigen Arbeitskräften aus dem Osten, in den Beitrittsländern die Furcht vor dem Ausverkauf an den zahlungskräftigen Westen -, kamen neue Krisen hinzu: Die 2008 ausgebrochene Banken- und Finanzkrise schuf Abstiegsängste, die gescheiterte Verteilung von Flüchtlingen in Europa trug vor allem neuen Mitgliedsländern den Vorwurf mangelnder Solidarität ein, die rechtsnationalen Regierungen in Ungarn und Polen liegen in Sachen Rechtsstaatlichkeit im Dauerclinch mit Brüssel.

Doch auch wenn die Probleme der Gegenwart das Beziehungsgeflecht in der EU häufig belasten: Die entscheidenden Weichen für das künftige Miteinander wurden bereits 2004 gestellt – beziehungsweise im Jahr davor, als in allen Kandidatenländern mit Ausnahme Zyperns Referenden abgehalten wurden.

Hoffnung auf Sicherheit und Prosperität

Dass es ihm gelungen ist, sein Land in die EU zu führen, hält Tschechiens Beitrittspremier Vladimír Spidla für den größten Erfolg seines politischen Lebens: "Umfragen vor dem Referendum hatten angedeutet, dass die Sache noch nicht entschieden war", erinnerte er sich kürzlich im Gespräch mit dem STANDARD. "Das Warten auf die ersten Ergebnisse gehörte dann zu meinen schwierigsten Stunden überhaupt."

Am Ende konnte Spidla aufatmen: Mehr als 77 Prozent seiner Landsleute hatten ihr Kreuz bei Ja gemacht. Die Hoffnung auf Stabilität und Sicherheit sei einhergegangen mit der Vorstellung rascher wirtschaftlicher Prosperität, glaubt der Expremier: "Die Finanzkrise war später daher ein großer Schock. Sie hat gezeigt, dass der Weg nicht so einfach ist."

"Wie Zucker im Kaffee"

Die Warnung des damaligen Präsidenten Václav Klaus, als neues Mitglied werde man sich in der EU auflösen "wie Zucker im Kaffee", weist Spidla aber noch heute entschieden zurück: "Wenn wir Einfluss haben wollen, müssen wir dort sein, wo die Entscheidungen fallen." Außenpolitisch habe sich das Gewicht des Landes sogar massiv erhöht: "Für die arabische Welt etwa waren auch wir plötzlich Schnittstelle zur Union und ihrer Nahostpolitik. Und auch in Japan entstand riesiges Interesse an guten Kontakten zu uns."

Unumstritten ist lediglich eines: Der 1. Mai 2004 war eine Zäsur in der europäischen Nachkriegspolitik. Gefeiert wurde sie so gut wie überall an den neuen EU-Binnengrenzen: im Dreiländereck Österreich/Italien/Slowenien, an der Ostseeküste, an der Grenze zwischen dem Burgenland und Ungarn. Und während polnische Polizisten oben an der Neiße Fotos fürs private Erinnerungsalbum knipsten, tat auch Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel das im wahrsten Sinne des Wortes Naheliegende. Er feierte in der Oper der slowakischen Hauptstadt Bratislava – und schwang sich zu einer kleinen Portion Pathos auf: "Das zerrissene Herz Europas, es ist heute wieder einig." (Gerald Schubert, 1.5.2019)