Zurück zum Ursprung also. Schließlich geht es hier ums Laufen für jedermann und jederfrau. Ob es, fragte letzte Woche prompt eine Leserin, denn wirklich falsch sei, einfach nur zu laufen. Sie meine, schrieb sie, das absolut ernst. Nicht nur hier, sondern überall, wo es um das L-Wort gehe, werde Laufen zur Wissenschaft. Zum Spielfeld von Expertinnen und Auskennern jedweder selbst- oder fremdattestierten Qualifikation, die dem Publikum, aber vor allem dem anderen (natürlich ahnungslosen) Experten, ex cathedra die einzig gültige Laufwahrheit predigen. Anderes sei grundsätzlich falsch. Verwerflich. Schädlich. Also abzulehnen und als Irrglaube anzuprangern.

Auf so eine Frage kann man im Grunde mit einem einzigen Satz antworten. Blöderweise ist der ein Werbeclaim. Egal: Just do it.

Foto: thomas rottenberg

Schließlich geht es beim Laufen – so wie bei jeder Tätigkeit, die nicht dem eigenen Überleben, der Aufzucht der Nachkommenschaft oder der Rettung des Planeten dient – ausschließlich darum, Spaß an der Sache zu haben. Alles andere ergibt sich daraus. Wie, wie oft, wie schnell oder wie lang? Vollkommen egal. Im Grunde ist es absurd, dass man das überhaupt laut aussprechen muss.

Der Ehrgeiz, das Spiel mit dem Optimieren, das Kokettieren mit dem Material kommt danach. Es ist wie der bunte Glitter, den der Konditor auf den so kunstvollen wie unnötigen Dekoturm aus Zucker und Eischaum streut. Der sagt genau nix über die Qualität der Torte aus, aber Blingbling ist das kaufentscheidende Detail. Und irgendwann ist die Kundschaft so konditioniert, dass sie tatsächlich glaubt, dass eine Torte ohne Glitter nicht essbar ist.

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Darum: zurück zum Ursprung. Die Frage war ernst gemeint, wiederholte die Frau, die sie gestellt hatte. Komme sie doch von "einer echten Laufanfängerin". Bei aller Liebe: "Laufanfänger" ist man – gehen wir von einem gesunden, nicht durch Behinderung oder Krankheit beeinträchtigten Menschen aus –, wenn man sich aufrichtet. Gehen lernt. Und läuft. Jedes Kind läuft. Unentwegt. Sammelt Erfahrungen. Lernt. Weil es stolpert und hinfällt – und sich aufrappelt und weiterläuft.

Irgendwann sagt aber jemand: "Renn nicht, sonst fällst du hin." Da beginnt der Ernst des Lebens. Und wenn man alt genug ist, um nicht mehr zu laufen, weil einem grad der Sinn danach steht, sondern "Sport macht" und sich in den Kreislauf aus Materialschlacht und Expertenansagen einklinkt, kommen irgendwann solche Worte: "Ich bin Laufanfängerin." Das ist Blödsinn. Mit Einschränkungen.

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Denn natürlich ist das, was von Trainern und Auskennen über Lauftechnik, Lauf-Abc, Trainingsgestaltung oder Trainingspläne gesagt wird, weder Unsinn noch unnötig oder gar blöd. Auch die Frage nach dem individuell richtigen Schuh ist berechtigt. So wie die nach dem Ziel des Laufens. Sowohl was Motivation als auch was Strecken, Distanzen, Erfolge oder Geschwindigkeiten angeht.

Aber: Das alles vor den ersten Schritt zu stellen ist falsch. Denn zuallererst muss die Sache einmal Spaß machen. Und den kann man sich ganz leicht selbst verderben: Niemand käme auf die Idee, auf den Mount Everest zu wollen, wenn schon der Aufstieg in den dritten Stock zu Atemnot führt. Aber beim Laufen passiert genau das. Zehn Tage vor dem VCM kam eine Mail: "Wo kann ich mich für den Wien-Marathon anmelden?" Auf der VCM-Homepage, aber die Anmeldung für 2020 beginnt erst nach dem 2019er-Lauf. "Sie verstehen mich falsch: Ich will nächste Woche laufen. Ich hab vor ein paar Tagen eine Doku gesehen und bin total begeistert. Vorgestern hab ich die Schuhe bestellt. Den XYZ. Ist der eh schnell?"

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Nein, das ist kein Scherz. Und die Leute meinen das ernst. Fragen Sie in einem Sportverein, einem Fachgeschäft. Oder plaudern Sie mit Kollegen von außerhalb der Bubble: Sie werden staunen. ("Wievielter bist du beim Marathon geworden? Wie, 'das ist egal'? Wieso ist das egal? Und wie weit ist das eigentlich? Zehn oder 15 Kilometer?") Dabei würden die meisten auch selbst lieber gestern als heute losstarten.

Nur fehlt fast allen jeder Bezug zu Wirklichkeit und Relationen. Zu dem, was zwischen Wollen und Können liegt. Zu den Welten zwischen Amateur- und Leistungssport. Weil man immer nur sieht, wie locker und easy alles ist. Oder halt aussieht. ("Bei uns im Büro ist eine Kollegin, die ist den Marathon gelaufen. Viereinhalb Stunden hat sie gebraucht. Aber der Sieger nur zwei. Wieso ist sie stolz, das ist doch ur schlecht, oder?")

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Was da fehlt, ist der "Schuhlöffel". Ein Übersetzungstool. Die Erdung. Auch in der Art des Geschichtenerzählens. Deshalb: zurück zum Ursprung. Denn wer nur mit Heldengeschichten und -bildern gefüttert mit dem Laufen – oder welchem Sport auch immer – beginnt, wird keinen Spaß haben.

Aber da bohrt man dicke Bretter. Denn sagen Sie mal jemandem, der sich mit "Ich will nächste Woche zum Marathon" und als jahrelanger Couchpotato vorstellt, dass er es lieber langsam angehen soll. Also vielleicht mit 30 Minuten abwechselndem Gehen und langsamem ("also wirklich langsamem!") Traben: "Sie wollen sich wohl über mich lustig machen." Jede Wette: Der Mailschreiber wird auch 2021 keinen Marathon laufen. Obwohl das keine Hexerei wäre. Schade.

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Ich laufe gern. Dass Laufen im Trend liegt, ist ein feiner Zufall. Wer Geschichten erzählt, dem werden Geschichten erzählt. Manchmal ist das anstrengend: Sie würden sich wundern, wie oft sich Menschen bei mir ausdrücklich dafür entschuldigen, dass sie wenig oder gar nicht laufen. Fragt man nach, kommt regelmäßig – mit schuldbewusstem Ton – das Geständnis: "Es macht mir halt keinen Spaß. Es ist einfach fad. Was mache ich falsch?"

Dann kommen große, ungläubig-erstaunte Augen, wenn ich frage, wieso in Dreiteufelsnamen der- oder diejenige denn dann laufe. Ob er oder sie mit seiner Zeit nichts Besseres zu tun wisse, als Dinge zu tun, die ihn oder sie anöden. Ich bewundere Tänzerinnen und Tänzer. Egal ob Wettkampf-, Formations- oder Gesellschaftstanz. Was da an Training, Freude, Herzblut und Leistung drinsteckt: wow! Aber mir selbst macht es null Spaß. Also lasse ich es. "Aber alle laufen." Echt jetzt?

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Ja, eh: Bewegung ist gesund. Das Gros der Menschen in den Industriestaaten bewegt sich zu wenig. Viele gar nicht. Das ist schlecht. Aber muss es Laufen sein? Nur weil "man" es gerade tut? Weil es über Lifestylepresse, die Behauptungen Ihres Nachbarn, der im Laufoutfit zum Bäcker spaziert, und den Algorithmus Ihres Insta-Accounts auf Sie hereinprasselt?

Laufen kann was. Probieren Sie es. Pomali. Aber wenn Sie Laufen scheiße finden, dann ist es eben scheiße. Für Sie. Lassen Sie es. Und quälen Sie weder sich noch Ihre Mitmenschen (also auch mich nicht), weil Sie etwas tun, das Sie nicht nicht tun wollen. Versuchen Sie halt was anderes. Es gibt Millionen Möglichkeiten.

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Aber falls Sie Spaß daran haben: willkommen in einer neuen Welt. Willkommen in einem Universum, in dem – wenn Sie das wollen – weit mehr drin ist als nur ein bisserl Herumgejogge. In dem sie vermutlich ziemlich glücklich werden können. Eben wenn Sie Ihr Ding machen. Und das nach ihrem Gusto gestalten und, optional, optimieren.

Dass Ihnen dann Vokabeln wie "Intervalltraining", "Fahrtenspiel", "PB", "Laktatparty" oder "Longjog" bald leicht und wie selbstverständlich über die Lippen gehen werden, ist leicht möglich – aber keine Bedingung, um ein "echter Läufer" oder eine "ernstzunehmende Läuferin" zu sein. Dafür zählt nur eines: dass Sie mögen, was Sie tun.

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Nachtrag. Ich schreibe diesen Text gerade im Auto. Es ist Samstagvormittag. Soeben ruft Harald Fritz an. Fritz ist, das dürfte bekannt sein, mein Coach. Wo wir gerade seien und wann wir in etwa ankommen würden, fragt er. Harald ist seit zwei Tagen in Cesenatico und scoutet dort mit Jacqueline Kallina Radrouten. Wir – rund 25 Nasen unseres Vereins – werden uns von den beiden eine Woche die Triathlon-Trainingsknute geben lassen: vor dem Frühstück eine Stunde schwimmen, danach vier oder fünf Stunden am Rad durch die Hügel der Emilia Romagna, dann ein bisserl laufen. Wer sich dann noch bewegen kann, wird von Eva beim Yoga am Strand durch ein paar spezifische Asanas (Yogapositionen) geführt. Wer sich nicht mehr bewegen kann, erst recht.

(Nebenbei: "Wie lange dauert eigentlich ein Triathlon?", fragt bei der Abreise ein Nachbar. "Drei oder vier Tage?" Ich referiere die Volldistanz-Distanzen, also 3,8, 180 und 42 Kilometer. "Uff, also eher eine Woche, oder?" Er sagt das mit Hochachtung.)

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Wir sind Freaks, das wissen wir. Wir tun das, was wir tun, gerne. Investieren dafür viel Zeit und auch viel Geld. Und zwar unabhängig davon, wie schnell wir sind. Oder ob wir überhaupt bei Wettkämpfen antreten und uns an die großen Distanzen herantrauen. Es geht um die Freude an dem, was wir tun.

Aber auch wenn es lange her ist und auf Bildern (hoffentlich) nicht mehr so aussieht: Begonnen haben wir alle, jede und jeder von uns, genau so wie diejenigen, die jetzt fragen: ahnungslos. Und dann mit kleinen, kurzen, langsamen ersten Schritten. Gehen, laufen, gehen. 20 Minuten waren es bei mir. Das vergisst man irgendwann.

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"Gerade am Anfang gilt 'Weniger bringt mehr'", referierte der Coach am Telefon noch, bevor ich erzähle, was da oben alles schon steht. "Wer vom Sofa weg fünf oder zehn Kilometer laufen will, wird keine Freude, sondern nur Frust und Schmerzen haben. Man muss es langsam angehen. Schritt für Schritt. Laufen, gehen, laufen, gehen. Ohne Stress, Druck und Ehrgeiz. Und in einer Gegend, die einem gefällt. Untrainiert ist eine halbe Stunde absolut genug. Die meisten Leute unterschätzen das und vergleichen sich sofort mit anderen. Das ist die Garantie dafür, keinen Spaß dran zu haben."

Mir liegt die Antwort auf der Zunge: "Eh. Aber muss man das echt erklären?" Dann fallen mir die Mails und Gespräche von und mit Menschen von außerhalb der Bubble wieder ein: Nein, es ist nicht selbstverständlich. Und bevor ich zu Wort komme, sagte Harald dann, was ich als ersten Satz eine Stunde zuvor getippt hatte: "Wenn du die erreichen willst, die sich noch nicht trauen, gibt es nur eines: zurück zum Ursprung." (Thomas Rottenberg, 1.5.2019)

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