Wie das Gehirn Sinnesreize verarbeitet: Flexibilität wird erst auf einer höheren Verarbeitungsstufe verortet (rot).

Illustr.: Universität Bielefeld, C. Kayser

Unser Gehirn ist permanent damit beschäftigt, zahlreiche unterschiedliche Sinnesreize zu verarbeiten und miteinander zu verknüpfen. Um der Flut von Wahrnehmungen Herr zu werden, bedient es sich einer Art Filtersystem. Dabei werden Sinneseindrücke nur dann kombiniert, wenn es für die aktuelle Aufgabe erforderlich und sinnvoll ist. Diese enorme Flexibilität hat nun ein internationales Team genauer analysiert.

"Uns interessiert, wie das Gehirn Sinnesreize verarbeitet", sagt Christoph Kayser von der Universität Bielefeld. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit multisensorischer Integration, also der Kombination verschiedener Sinnesinformationen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man einen Film schaut: Hier hört man, wie die Figuren miteinander sprechen, und sieht gleichzeitig ihre Lippenbewegungen. Es ist jedoch nicht immer sinnvoll, dass auditive und visuelle Informationen automatisch im Gehirn kombiniert werden, etwa wenn ein fremdsprachiger Film synchronisiert ist und die Lippenbewegungen nicht zum Ton passen.

Drei Modell im Test

In ihrer Studie haben die Wissenschafter erforscht, in welchen Bereichen des Gehirns Sinnesreize flexibel integriert werden. Dazu haben sie drei mögliche Modelle getestet. Während verschiedene Sinnesreize im ersten Modell komplett getrennt verarbeitet werden, werden sie im zweiten Modell automatisch kombiniert. Die dritte Variante ist schließlich das Modell der "kausalen Inferenz": Verschiedene Sinnesreize werden nur dann kombiniert, wenn sie nicht räumlich oder zeitlich voneinander entfernt sind. Hört man zum Beispiel immer einen Ton und sieht gleichzeitig ein Bild, kombiniert das Gehirn die Informationen. Tauchen Ton und Bild jedoch zusammen auf, obwohl sie vorher getrennt waren, werden sie nicht kombiniert. "Im Modell der kausalen Inferenz schließt das Gehirn also auf eine mögliche gemeinsame Quelle der Sinnesreize. Sinnesreize werden nicht einfach automatisch integriert, sondern nur, wenn sie eine gemeinsame Quelle haben", sagt Kayser.

Um die drei Modelle zu vergleich, wurden Testpersonen mit Licht- und Tonreizen konfrontiert. Licht und Ton tauchten dabei manchmal gleichzeitig auf, manchmal mit unterschiedlichen Häufigkeiten. Währenddessen zeichneten die Wissenschafter die Hirnaktivität der Testpersonen mithilfe einer Magnetenzephalographie (MEG) auf. Das Ergebnis: Die drei Modelle passen jeweils zu unterschiedlichen Bereichen des Gehirns und damit auch zu unterschiedlichen Stufen der Verarbeitung.

Filter im Frontallappen

Auf der niedrigsten Stufe werden die Informationen getrennt in der Seh- und der Hörrinde abgebildet. Danach werden sie im Parietallappen – das ist der obere Teil des Gehirns – automatisch kombiniert. Erst auf einer höheren Verarbeitungsstufe liest das Gehirn die Informationen aus den vorherigen Stufen aus und filtert bei Bedarf störende Sinnesreize. Diese Flexibilität in der Wahrnehmung wird in speziellen Arealen des Frontallappens verortet, die für abstraktere Denkprozesse zuständig sind. "Auf der Ebene des Verhaltens weiß man schon länger, wie Menschen mit verschiedenen Sinnesinformationen umgehen. Mit unserer Studie können wir erstmals zeigen, wie und wo das Gehirn solche Informationen verarbeitet", sagt Kayser.

Die Ergebnisse der im Fachjournal "Neuron" erschienen Studie können in verschiedenen weiteren Forschungsbereichen genutzt werden. Sie sind zum Beispiel hilfreich für die Erforschung des abstrakten Denkens, weil dort Flexibilität und kausale Zusammenhänge eine wichtige Rolle spielen. "Wie das Gehirn Sinnesinformationen verarbeitet, ist zudem für technische Anwendungen relevant, etwa bei der Interaktion zwischen Mensch und Maschine", sagt Kayser. Damit befassen sich seine Kolleginnen und Kollegen im Bielefelder Exzellenzcluster CITEC. Und schließlich sind die Studienergebnisse im klinischen Kontext von Bedeutung. Dort können sie helfen, Krankheiten wie Autismus besser zu verstehen, bei denen Menschen Schwierigkeiten haben, Sinnesinformationen richtig zu verarbeiten. (red, 30.4.2019)