Der 15. Jahrestag der Osterweiterung war für Europa ein Grund zu feiern, ebenso die Erinnerung an den Tag vor 30 Jahren, als Ungarn mit dem Abbau des Eisernen Vorhangs begann. Tatsächlich hat der ganze Kontinent von der wirtschaftlichen und politischen Öffnung grundsätzlich profitiert. Aber ein zentraler Aspekt der EU-Mitgliedschaft, nämlich die Freizügigkeit für alle Bürger, hat dramatische Folgen gehabt, die immer noch zu wenig bedacht werden.

Die Möglichkeit, überall in der EU zu leben und zu arbeiten, bietet den Einzelnen attraktive Lebenschancen. Aber auf Länderebene betrachtet haben davon vor allem Zuwanderungsländer wie Österreich, Deutschland oder Großbritannien profitiert – obwohl es auch dort Verlierer gibt. In Osteuropa ist die Bilanz hingegen insgesamt tiefrot.

Aus den exkommunistischen Staaten sind in drei Jahrzehnten Millionen von Menschen in den Westen gezogen. Ihre Bevölkerung ist rasant geschrumpft, in Bulgarien etwa um zwei Millionen oder 22 Prozent. Aus dem kleinen Litauen wanderten allein seit dem EU-Beitritt 2004 eine halbe Million Bürger aus – das sind 15 Prozent. Kein Land der Region ist vor Abwanderung gefeit. Ein solcher Bevölkerungsverlust belastet jede Gesellschaft finanziell und psychologisch schwer.

Brain-Drain gefährdet Entwicklung

In der EU kommt noch dazu, dass die Auswanderer meist jüngere Menschen sind, die sich zu Hause ausbilden lassen, aber ihre Qualifikationen dann anderswo einsetzen. Dieser Brain-Drain gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung der Herkunftsstaaten. Während Österreich seinen Fachkräftemangel ausgleicht, fehlt es dort immer mehr an Ärzten, Technikern und jenen Jungunternehmern, die einen ökonomischen Aufholprozess vorantreiben können.

Die Abwanderung wird so zum Teufelskreis. Weil die Länder langsamer wachsen als erhofft, sehen Facharbeiter und Hochschulabsolventen ihre Jobchancen schrumpfen und ziehen noch stärker in den Westen, wo sie deutlich mehr verdienen können.

Die Massenemigration prägt auch die triste Politik in Osteuropa. In keinem der neuen EU-Mitgliedstaaten ist eine stabile demokratische Kultur entstanden; überall regieren populistische Autokraten mit wenig Geduld für Andersdenkende. Warum aber gewinnen Viktor Orbán in Ungarn, Jaroslaw Kaczynski in Polen oder Bojko Borissow in Bulgarien regelmäßig Wahlen? Warum sind liberale und proeuropäische Parteien dort so schwach? Deren Anhänger leben zu einem guten Teil im Westen, und selbst wenn sie dort wählen können, nehmen sie am politischen Leben in der Heimat nicht teil. Das führt zu einem weiteren Teufelskreis: Je mächtiger Orbán wird, desto intensiver denken liberale Ungarn ans Auswandern – und tun es in vielen Fällen auch.

Treue wird belohnt

Jene, die in ihrer Heimat zurückbleiben, entscheiden sich dann oft für Politiker, die bekanntermaßen despotisch und korrupt sind. Der bulgarische Politikwissenschafter Ivan Krastev erklärt das so: Die Wähler wissen, dass diese Populisten – anders als die smarten Liberalen – nicht nach Brüssel, London oder Wien ziehen werden, sondern bei ihnen vor Ort bleiben. Diese Treue wird bei Wahlen belohnt.

Die Freizügigkeit in der EU kann und soll nicht eingeschränkt werden. Aber die Schattenseiten der unbegrenzten Migration müssten deutlicher als Problem erkannt und effektiver bekämpft werden – bevor Europa noch weiter auseinanderdriftet. (Eric Frey, 3.5.2019)