Seinen letzten Auftritt auf dem Balkon des Palazzo Comunale in Forlì hatte Benito Mussolini am 18. August 1944 gehabt. Forlì ist eine mittelgroße Stadt in der norditalienischen Region Emilia-Romagna, nur 15 Kilometer von Predappio, dem Geburtsort des "Duce", entfernt. An den Laternenpfählen auf der Piazza Saffi vor dem Palazzo Comunale hatte der Duce zur Abschreckung vier Partisanen aufhängen lassen, die seine faschistischen Kämpfer tags zuvor getötet hatten. Die Laternen stehen heute noch – als Mahnmal gegen die Diktatur und zum Gedenken an die vier Freiheitskämpfer.

L'anticonformista

Den Balkon über der Piazza Saffi als Redebühne zu benutzen, das war während der vergangenen 75 Jahre für Politiker jedweder Couleur undenkbar gewesen – bis Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini das Tabu am Wochenende brach: In seiner Balkonrede pries er die Vorzüge der chemischen Kastration von Sexualstraftätern und warnte vor einem "islamischen Kalifat" in Brüssel, wo die europäischen Nationen demnächst um Erlaubnis bitten müssten, wenn sie Wurst oder Wein als Lebensmittel zulassen wollten.

"Groteskes Déjà-vu"

Gleichzeitig verspottete er wie gewohnt seine politischen Gegner. Er nannte sie "Zecken" – ein beliebtes Schimpfwort nicht nur im Vokabular der italienischen Neofaschisten.

Vor 75 Jahren sprach Benito Mussolini vom Balkon des Palazzo Comunale in Forlì...
Foto: Screenshots Forlì Today

Die Stadtbehörde von Forlì und Vertreter der Opposition zeigten sich empört über Salvinis Auftritt. "Der Innenminister hat es für passend gehalten, die Massenveranstaltungen des faschistischen Regimes zu imitieren", kritisierte Davide Drei, der sozialdemokratische Bürgermeister von Forlì. Das sei inakzeptabel.

Von einem "grotesken Déjà-vu" sprach die lokale Sekretärin des linken PD. "In all den Jahrzehnten des Friedens hat Forlì keine so dunkle Nacht mehr erlebt wie an diesem Wochenende", betonte Valentina Ancarani. Salvinis Auftritt belege, mit welcher Unverfrorenheit der Innenminister den Italienern ein neues Geschichtsbild eintrichtern wolle.

Tatsächlich handelte es sich beim Auftritt Salvinis auf dem Duce-Balkon einmal mehr um eine gezielte Provokation, mit welcher der rechtsnationale Innenminister die post- und neofaschistischen Wähler umgarnen will. Der letzte Tabubruch liegt nur zwei Wochen zurück: Salvini – und auch die anderen Lega-Minister – hatten demonstrativ den nationalen Feiertag des 25. April boykottiert, an dem Italien der Befreiung von Diktatur und Nazifaschismus gedenkt. Der Feiertag der "Liberazione" ist den alten und neuen Duce-Nostalgikern seit jeher ein Dorn im Auge:_Sie sehen im Sturz Mussolinis keinen Grund zur Freude.

– am Wochenende brach der rechte Hardliner Matteo Salvini ein Tabu und tat es dem "Duce" gleich.
Foto: Screenshots Forlì Today

Salvini bezeichnet die Vorwürfe, er verharmlose den Faschismus, um in Italien demnächst wieder ein autoritäres Regime etablieren zu können, als "lächerlich und hysterisch": Weder der Faschismus noch der Kommunismus würden je wieder zurückkehren. "Diese alten Kategorien langweilen mich", kontert der Innenminister. Fest steht, dass viele Italiener ein Faible für den "starken Mann" haben – besonders in Krisenzeiten wie den heutigen. Laut jüngsten Umfragen beurteilen 48 Prozent der Befragten die Leistungen des rechten Hardliners Salvini als positiv.

Ebnete Berlusconi den Weg?

Natürlich ist Salvini nicht der erste Rechtspolitiker in Italien, der die Mussolini-Diktatur verharmlost. Ex-Premier Silvio Berlusconi hatte den Postfaschisten Gianfranco Fini in seine Regierung geholt und Mussolini als "gutmütigen Diktator" bezeichnet, der "nie jemanden umgebracht und seine politischen Gegner bloß in grenznahe Ferienlager geschickt" habe.

Diese Geschichtsklitterung hat den Duce-Posen Salvinis erst den Weg geebnet. Die Zeitung La Repubblica erinnerte daran, dass in der Politik nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form zähle: Wenn ein Innenminister im Fußballstadion wie die Neofaschisten Bomberjacken trage und in Forlì auf den Balkon des Duce steige, dann sei das eine politische Aussage, die man ernst nehmen sollte. Bevor es zu spät sei. (Dominik Straub aus Rom, 5.5.2019)