Lange hat Shaul Spielmann versucht, seine Erinnerungen an die Jahre im Konzentrationslager zu verdrängen. Gesprochen hat er darüber nicht einmal mit der Familie, obwohl er häufig davon träumte: "Das steckt für immer in meinem Kopf." Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Spielmann kommt jährlich mit seiner Familie nach Wien zu der Befreiungsfeier von Mauthausen Anfang Mai. Beim "Fest der Freude" – zum Gedenken an das offizielle Ende des Zweiten Weltkrieges – wird er heute, Mittwoch (Beginn: 19.30 Uhr), auf dem Heldenplatz seine Geschichte erzählen.

Holocaust-Überlebender Shaul Spielmann setzt auf eine aufgeklärte Jugend: "Ich glaube, dass es noch immer einige Antisemiten in Österreich gibt."
Foto: Newald

STANDARD: Sie sind bereits zum fünften Mal in Wien. Wie ist es für Sie zurückzukehren?

Spielmann: Bis zum Anschluss hatten wir in Wien ein sehr angenehmes Leben. Es hat uns nichts gefehlt, mein Papá hat als Elektroingenieur gut verdient, meine Mutter hatte ein Delikatessengeschäft. Im März 1938 – mit dem "Anschluss" – ist der Himmel auf uns gefallen.

STANDARD: Sie waren ein Kind, sieben Jahre alt. Haben Ihre Eltern geahnt, was auf sie zukommen wird?

Spielmann: Meine Eltern haben natürlich mehr gewusst. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was geschieht. Von einem Tag auf den anderen gab es Österreich nicht mehr. Ich wusste nicht, was ich bin, Deutscher oder Österreicher. Zwei, drei Tage nach dem "Anschluss" ist ein Hausbewohner – er war fanatischer Nazi – mit zwei SS-Offizieren in unsere Wohnung eingebrochen. Ein SS-Offizier hat seine Pistole an meinen Kopf gehalten und meinen Vater angebrüllt, dass er drei Minuten Zeit hat, Geld, Gold, Schmuck und alles, was wertvoll war, zu bringen, sonst erschießt er mich. Meine Mutter ist ohnmächtig geworden, mein Vater stand so unter Schock, dass er alles abgegeben hat. Kurz darauf haben wir von der Gestapo ein Ultimatum bekommen, dass wir die Wohnung und das Geschäft in Ottakring innerhalb von zehn Tagen verlassen müssen. Man hat uns alles geraubt, wir sind ohne nichts dagestanden.

STANDARD: 1942 wurden Sie nach Theresienstadt, später nach Auschwitz deportiert.

Spielmann: Es war fürchterlich, als wir in Auschwitz ankamen: Als die Türen der Güterwagons geöffnet wurden, haben alle geschrien, es wurde geschossen, und Hunde haben gebellt. Sie haben uns aus den Wagons geworfen. Die alten Menschen konnten nicht rausspringen, sie wurden herausgedrängt und lagen auf dem Boden. Die anderen sind auf ihre Körper gesprungen. Das waren die ersten Opfer, die ich gesehen habe. Sie sind auf der Rampe gestorben. Mein Papá hat als Lagerschreiber gearbeitet. So hat er mir das Leben gerettet. Ich musste zur Selektion. Ich war klein und mager, mein Schicksal war die Gaskammer. Von 1600 Kindern sind 76 ins D-Lager gekommen, alle anderen wurden vergast. Mein Vater wusste, dass ich zur Selektion muss. Er hat meine Karte zu den Karten jener Kinder gesteckt, die in das andere Lager kamen.

Ob sich die Geschichte wiederholen kann? "In dieser Welt ist alles möglich", sagt Spielmann.
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STANDARD: Haben Sie Ihre Mutter noch einmal gesehen?

Spielmann: Wir wurden an der Rampe getrennt. Zuerst ist meine Großmutter gestorben, drei Wochen danach meine Mutter. Sie war in der Krankenbaracke, und ich habe jeden Tag probiert, sie zu sehen. Sie lag dort neben einer Holzwand, und da habe ich ein Loch gebohrt und konnte sie sehen. Nach ein paar Tagen, als ich in der Früh hingegangen bin, sah ich, wie ihre Leiche herausgebracht wurde. Sie war so mager, so dünn.

STANDARD: Auch Ihr Vater wurde umgebracht. Sie haben Auschwitz und den Todesmarsch nach Mauthausen überlebt ...

Spielmann: Kurz war ich auch in einem Lager in Melk. Dort mussten wir, rund 50 Kinder, Kartoffeln schälen – von früh bis spät. Wer zu viel wegschälte, bekam eine Ohrfeige. Das war eine sehr schwere Arbeit. Dann ging es aber wieder zurück nach Mauthausen. Das Lager war völlig überfüllt. Wir wurden in Zelte gepfercht, es gab keinen Platz. Man konnte nicht schlafen, nicht sitzen. Eine Nacht hat eine US-Bombe ein Zelt getroffen. Die Menschen wurden in Stücke gerissen. In der Früh hingen Körperteile von Menschen in den Gittern: Hände, Füße, ein Kopf. Überlebende haben dieses Fleisch runtergenommen und gegessen.

STANDARD: Sie leben seit dem Ende des Krieges in Israel. Verfolgen Sie die Erinnerungen heute noch?

Spielmann: Manchmal träume ich davon. Nach dem Krieg hätte ich niemals gedacht, dass ich mich von all dem erholen könnte. Das steckt für immer in meinem Kopf. Jeder hat gehofft, zu überleben. Solange man Hoffnung hat und man atmet, macht man alles, um am Leben zu bleiben.

STANDARD: Wann haben Sie mit Ihren Kindern über den Holocaust und Ihr Leben gesprochen?

Spielmann: In den ersten Jahren habe ich überhaupt nicht über diese Zeit gesprochen. Auch nicht in der Familie. Ich habe ja sieben Kinder und 18 Enkel. Ich habe erst vor wenigen Jahren damit begonnen. Seit ein paar Jahren fahren wir nach Österreich, da kommt das schon.

STANDARD: Dass Sie einmal nach Österreich zurückkehren, das war nie Thema?

Spielmann: Zu wem hätte ich gehen sollen? Ich habe niemanden. Vor knapp 20 Jahren waren meine Frau und ich das erste Mal in Wien. Wir sind durch die Stadt spaziert, haben Konzerte besucht. Da habe ich mich so langsam erinnert, wie schön Österreich ist. Es ist nur schade, dass die Österreicher solche Antisemiten und Nazis in der Zeit nach dem "Anschluss" waren.

STANDARD: Und wie sehen Sie Österreich heute?

Spielmann: Ich glaube schon, dass es noch immer einige Antisemiten in Österreich gibt. Aber die Jugend ist da ganz anders.

STANDARD: Macht Sie die Politik generell sorgenvoll?

Spielmann: In Europa herrscht heute so viel Antisemitismus. Schauen Sie etwa nach Frankreich, Deutschland oder nach Amerika. Ich hoffe, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

STANDARD: Kann sich die Geschichte wiederholen?

Spielmann: Das ist doch eine verrückte Welt. In dieser Welt ist alles möglich. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 8.5.2019)